Nachtsplitter
viel ist ja nicht mehr los. Als die Nachricht vom Unfall die Runde gemacht hat, sind die Leute in Scharen
abgehauen.«
»Hast du Markus gesehen?«, fragte ich.
Pia ließ ihre langen Haare wie einen Vorhang vors Gesicht fallen und schüttelte den Kopf. »Lass uns abhauen.« Sie griff nach
meinem Arm und zog mich zu den Fahrrädern. »Bevor die Bullen auftauchen und uns Löcher in den Bauch fragen.«
»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte ich, während Pia an ihrem Fahrradschloss herumfummelte.
»Kurz vor eins.«
Die Information prallte an mir ab. Dabei hätte ich mir eigentlich Sorgen machen müssen. Meine Mutter hält sich ziemlich genau
ans Jugendschutzgesetz, darum darf ich nur bis zwölf weg. Total albern und ziemlich nervig, aber sie lässt sich nicht davon
abbringen. Deshalb schlafe ich am Wochenende meistens bei Pia. Ihre Eltern sind wesentlich lockerer. Um diese Uhrzeit von
der Polizei erwischt zu werden, würde eine Menge Ärger bedeuten. Doch das ließ mich völlig kalt. Es war, als würde mich das
alles nichts angehen.
Endlich hatte Pia es geschafft, das Schloss zu öffnen. Wir schwangen uns auf die Fahrräder und traten in die Pedale.
Als wir uns der Autobahnbrücke näherten, warf ich automatisch einen Blick zu der Stelle, an der Pia und ich vorhin gesessen
und mit Markus und Jakob herumgeblödelt hatten. Es schien mir viel länger als nur ein paar Stunden her zu sein. Jetzt standen
dort Schaulustige und betrachteten das Szenario auf der Autobahn. Auf dem Standstreifen parkten mehrere Polizeiwagen. Ein
Krankenwagen war ebenfalls da. Sanitäter beugten sich über eine Bahre. Jenseits der Leitplanke lag ein völlig zerknautschtes
Auto. Es sah aus, als wäre es bereits in der Schrottpresse gewesen. Unmöglich, die ursprüngliche Form oder das Fabrikat zu
erkennen. Und unmöglich, dass jemand aus diesem Wrack lebend herausgekommen war.
Wir hatten die Brücke schon fast überquert, alsich aus den Augenwinkeln einen großen, dunklen Wagen wahrnahm, der sich beinahe lautlos dem Unfallort näherte und neben dem
Krankenwagen hielt. Die hinteren Fenster waren mit gerafften Gardinen verhängt. Ein Leichenwagen.
In diesem Moment traf mich die Erkenntnis so klar und scharf wie ein Glassplitter.
Hier ist heute Nacht jemand gestorben.
Mir wurde wieder übel und ich wünschte mir, wir wären etwas schneller über die Brücke gefahren.
Sonntag
1
Ich gehe durch den Wald. Es ist dunkel, riecht nach Moos und Fichtennadeln. Zweige schlagen mir ins Gesicht, aber ich gehe
immer weiter. Ich habe ein Ziel. Meine Schritte federn auf dem weichen Boden. Sie sind lautlos und leicht. Ich fühle mich
schwerelos. Hinter mir ertönt eine Stimme. Sie sagt meinen Namen. Immer wieder. Ich drehe mich langsam um. Wie in Zeitlupe
gleiten Baumstämme und Äste an mir vorbei. Ich sehe eine Gestalt. Sie hält etwas in der Hand. Sie kommt näher. Ich will weglaufen,
aber meine Beine gehorchen mir nicht. Ich öffne den Mund, um zu schreien. Fichtennadeln rieseln hinein, verstopfen meinen
Hals, nehmen mir den Atem. Kein Laut kommt aus meiner Kehle.
Ich schreckte hoch und schnappte nach Luft. Meine Hand fuhr zu meinem Mund, aber es waren keine Fichtennadeln da. Ich war
nicht im Wald, sondern in Pias Zimmer, auf ihrer Gästematratze. Es war auch nicht Nacht, sondern helllichter Tag.
Beruhige dich, Jenny. Es war nur ein Traum. Nichts weiter, nur ein dummer Traum.
Die Sonne schien unbarmherzig durchs Fenster und stach mir in die Augen. Pia hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Ich
war klitschnass geschwitzt. Das T-Shirt klebte unangenehm an meinem Körper und ich schälte mich aus Pias viel zu warmem Schlafsack. Die Kopfschmerzen von letzter
Nacht waren noch schlimmer geworden. Jeder Gedanke tat weh. Jeder Sonnenstrahl auf meiner Kopfhaut schmerzte. Hals und Schultern
waren völlig verspannt. Das Rauschen in meinem Kopf war immer noch da. Langsam, ganz langsam nahm mein Gehirn den Betrieb
auf, sendete Signale an meine Muskeln.
Augen: Öffnen.
Mund: Gähnen.
Hände: Die Schläfen massieren.
Half aber nicht. Das Hämmern blieb.
»Guten Morgen!« Pia kam herein. Sie hatte sich ein großes Handtuch umgeschlungen und hielt ein kleineres in der Hand. Ihre
Haare waren feucht. Sie sah so frisch aus wie der Sommermorgen draußen vor dem Fenster.
»Hast du etwa schon geduscht?«, presste ich hervor. Meine Stimme knarrte wie eine ungeölte Tür.
»Allerdings.« Pia begann, sich mit
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