Nachtsplitter
dem kleineren Handtuch die Haare zu frottieren. »Kann ich nur empfehlen. Danach fühlt man
sich wie neugeboren.« Sie schnupperte und rümpfte die Nase. »Mann, hier stinkt's vielleicht. Ekelhaft.« Sie riss das Fenster
auf, frische Luft strömte herein.
»Was hast du denn da gemacht?« Pia warf einen Blick auf meine nackten Beine. Die Kratzer waren in der Morgensonne nicht zu
übersehen. Jetzt bemerkte ich auch noch ein paar blaue Flecke am Schienbein, die mir gestern in der Dunkelheit gar nicht aufgefallen
waren.
Was zum Teufel ist passiert, Jenny? Denk nach!
Panik überfiel mich, als mir klar wurde, dass meine Erinnerung nicht zurückgekehrt war. Das schwarze Loch nahm immer noch
einen viel zu großen Raum in meinem Gedächtnis ein. Dafür waren andere Bilder umso deutlicher. Ich sah mich wieder auf dem
heruntergekurbelten Autositz liegen. In einem fremden Wagen, mitten im Wald. Ich spürte meine Angst, spürte das Herz unkontrolliert
in meiner Brust schlagen, spürte saure Übelkeit meine Kehle hinaufsteigen.
Und das war kein Traum. Das war die Wirklichkeit. Auch wenn sie mir kein bisschen gefiel.
Ich ließ mich zurück auf die Matratze sinken und zog den Schlafsack über meine Beine. »Bin gestolpert. Ist nicht so schlimm.«
Ich schaffte es nicht, Pia zu erzählen, was wirklich passiert war. Auch wenn ein Teil von mir sich gerne alles von der Seele
geredet hätte. Aber die richtigen Worte fielen mir nicht ein und die Kopfschmerzen raubten mir fast den Verstand. Ich konnte
keinen klaren Gedanken fassen. Vielleicht hätte ich es trotzdem versucht, wenn Pia etwas hartnäckigergewesen wäre. Aber sie hakte nicht nach, sondern saß mit nach vorne gebeugtem Kopf auf der Bettkante und war ganz damit beschäftigt,
ihre Haare zu frottieren.
»Willst du etwa schon aufstehen?«, fragte ich und gähnte.
»Ich kann nicht mehr schlafen.« Pia warf das Handtuch auf den Boden, sprang auf und wühlte in ihrem Kleiderschrank herum.
Sie zog ein geblümtes Sommerkleid heraus. »Außerdem hab ich Hunger. Was ist mit dir? Wie wär's mit einem ausgiebigen Sonntagsfrühstück?
Brötchen, Rühreier mit Speck und Kaffee – na, wie klingt das?«
Von Pias schnellen Bewegungen wurde mir schwindelig. Ich schloss einen Moment die Augen. »Hör auf, sonst wird mir schlecht.«
Wie aufs Stichwort zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Ich schaffte es gerade noch, den Brechreiz zu unterdrücken.
Pia ließ das Kleid sinken und drehte sich zu mir um. Zum ersten Mal an diesem Morgen sah sie mich richtig an. »Dir geht's
nicht so gut, was?«
»Erraten«, murmelte ich und vergrub meinen Kopf im Kissen.
Pia zögerte. »Ist irgendwas?« Einen Moment meinte ich, Angst in ihrer Stimme zu hören.
»Nein.« Ich versuchte, die Bilder der letzten Nacht zu verdrängen. Wenn sie weiter wie eine endlose Diashow vor meinem inneren
Auge abliefen, würdemir irgendwann der Schädel platzen. »Lass mich einfach noch ein bisschen schlafen, okay?«
Pia grinste erleichtert. »Kommt nicht infrage. Was du jetzt brauchst, ist eine Dusche, frische Klamotten und ein starker Kaffee.
Danach geht's dir hundertprozentig besser.«
Vielleicht hatte sie ja recht. Vielleicht würde es mir wirklich besser gehen, wenn ich einfach so weitermachte wie immer.
Wenn ich so tat, als wäre dies ein ganz normaler Sonntag. Als wäre letzte Nacht nichts passiert. Dann würden die Bilder in
meinem Kopf vielleicht irgendwann verschwinden. Und ich würde vergessen, dass mir ein paar Stunden meines Lebens fehlten.
Ich setzte mich vorsichtig auf und schwang die Beine über die Matratze. Sofort begann es hinter meinen Schläfen vorwurfsvoll
zu pochen. Stöhnend hielt ich mir den Kopf.
»So schlimm?«, fragte Pia. Sie schlüpfte in ihr Kleid.
»Hab's gestern ein bisschen übertrieben«, murmelte ich. »Sekt, Wein und Bier durcheinander. Das mach ich nie wieder, echt.«
Pia kicherte etwas zu fröhlich. »Ich werd dich dran erinnern. Sie hob meinen Rock auf, der zerknüllt auf dem Boden lag, und
hielt ihn mit spitzen Fingern hoch. »Den willst du wohl nicht mehr anziehen, was?« Sie schnupperte und verzog das Gesicht.
»Sag mal, hast du gestern gekotzt?«
»Ich weiß nicht mehr so genau«, behauptete ich. »Schon möglich.«
»Ich leih dir eine Jeans«, sagte Pia. »Und während du duschst, kümmere ich mich ums Frühstück.«
2
Eine halbe Stunde später saß ich in der Küche an einem reich gedeckten Tisch. Natürlich hatte nicht Pia
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