Nachtzug
Sie würden gerne Ihren Befehlen folgen, wenn Sie ihnen Waffen geben und sagen, was sie tun sollen. Bilden Sie aus ihnen kleine, organisierte Gruppen, die sich gut führen lassen. Sie würden schon kämpfen, wenn sie wüßten, wohin die Deutschen sie bringen.«
Moisze schüttelte traurig den Kopf. »Sie würden dir niemals glauben, David. Die Nazis sind geschickte Lügner, und unsere Leute steigen ruhig und friedlich in die Züge ein. Ich glaube nicht, daß du sie überreden könntest, zu flüchten und zu den Waffen zu greifen.«
David ließ seinen Blick über die Runde schweifen und verharrte zu {171} erst bei Abraham, auf dessen Gesicht sich seine Leidenschaft widerspiegelte. Schließlich blieb sein Blick an der Schönheit Leokadjas haften, deren Augen, schimmernd wie ein Malachit, ins Feuer starrten. »Sie weiß, was ich fühle, sie gibt mir recht«, dachte er.
Brunek, den die Verzweiflung in der Stimme des Jungen betrübte, entgegnete sanft: »Wir wissen, daß die Juden den Kampf nicht fürchten, aber was wir brauchen, ist eine starke Einheit ausgebildeter Leute. Was du vorschlägst, wäre ein aufs Geratewohl zusammengestellter, unorganisierter …«
David sprang auf. »Das ist Unsinn«, zischte er mit angespannter Stimme, »ihr habt alle unrecht.« Er machte auf dem Absatz kehrt und hechtete, nach seiner Schafswolljacke greifend, zum Ausgang.
»David!« rief ihm Moisze hinterher und erhob sich ebenfalls. Aber Brunek legte eine Hand auf die Schulter des Metzgers und schüttelte den Kopf. »Auch du warst doch einst jung, mein Freund«, hielt er ihn zurück. »Hast du vergessen, welches Feuer in deiner Seele brannte? Er ist ein guter Kämpfer mit dem Mut von hundert Mann. Laß ihn über deine Worte nachdenken, bedränge ihn nicht. Wir müssen zusammenhalten.«
Sobald der junge Mann durch die kleine Öffnung in der Klippe geschlüpft war, stand Leokadja unvermittelt auf und eilte ihm nach.
Die anderen um das Feuer Versammelten sahen sie wegrennen, ohne etwas zu sagen. Sie wußten alle, ein jeder von ihnen, welche Qualen David durchmachte.
David zerrte an seinem Mantel und seinen Handschuhen, während er im Schnee über den engen Pfad nach oben stapfte. Die beiden verborgenen Posten, die die Höhle bewachten, beobachteten, wie Leokadja David hinterherrannte und dann zu ihm aufschloß.
Als sie oben ankamen, blieb David stehen und blickte über die unberührte Schneelandschaft, deren Ruhe fast wie ein Hohn auf ihn wirkte. Er drehte sich zu der jungen Frau um, als er hörte, wie sie ihn sanft fragte: »Wohin gehst du?«
»Als ich noch auf dem Hof meines Vaters arbeitete«, sagte er entrückt, »bin ich immer mit meinem Pferd ausgeritten, wenn ich nachdenken wollte.«
»Möchtest du alleine sein?«
{172} Er blickte in ihre Augen, die grün wie das Moos des Frühlings waren, überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Nein.«
Darauf setzten die beiden schweigend ihren Spaziergang unter den Bäumen fort. Schließlich gelangten sie zu dem Pferd, das auf einem schneefreien Stück Rasen weidete, und sie stiegen, wie am Tag zuvor bei der Brücke, auf und ritten in die Wälder. Dabei schlang Leokadja die Arme eng um seine Hüften.
Die Schultern hochgezogen, um sich vor der Kälte zu schützen, eilte Rudolf Bruckner durch den weichen Schnee und blieb immer wieder stehen, um seine Füße aufzustampfen und den Kreislauf anzuregen. Er hatte den Mantelkragen bis zu den Ohren hochgezogen und seine durch Handschuhe geschützten Hände tief in den Taschen vergraben. Bruckner haßte die Kälte; es schien ihm im Winter nicht ein einziges Mal richtig warm zu werden. Als der Laborant mit verkniffenem Gesicht an dem zweigeschossigen Backsteingebäude ankam, in dem er über einem Textilgeschäft eine Zweizimmerwohnung hatte, erkannte er an den Spuren im Schnee, daß sein Mitbewohner vor ihm heimgekehrt war. Als er eintrat und in dem kleinen Flur anlangte, den er mit dem Geschäft teilte, bemerkte er zu seiner Verärgerung auch, daß Sergej wieder einmal Schnee nach oben geschleppt hatte. Wütend trat er sich die Füße auf der kleinen Matte ab, die sich direkt hinter der Eingangstür befand, und stieß Flüche gegen seinen gedankenlosen und bequemen Mitbewohner aus.
Als er die Treppe hinaufstieg und sah, daß die Wohnungstür weit offen stand, wurde er noch wütender. »So kommt doch die ganze Kälte rein!« wetterte er, als er das kleine Wohnzimmer betrat und die Tür kräftig zuschlug. »Den ganzen Tag friere ich mir
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