Nackt unter Wölfen
wild von einem zum andern. Die Reihen standen wie gegossen. In Pippig zitterte es. Soll ich alles auf mich nehmen? Vortreten, sprechen: Ich habe das Kind, ich ganz allein …?
Die Minute war um. Reineboth senkte die Uhr. Pippig hatte die Empfindung, als würde er in den Rücken gestoßen! Jetzt! Vortreten! Aber er stand starr.
Reineboth stakte Kropinski mit der Stiefelspitze in die Seite: »Aufstehen!«
Jetzt, jetzt, jetzt!, zerrte es in Pippig, und tatsächlich war es ihm, als ob er vortreten würde, schwerelos, wie im Traum. Kropinski erhob sich wankend und erhielt von Reineboth einen Tritt ins Kreuz, dass er zur Tür taumelte. Und doch waren es weder Angst noch Feigheit, die Pippig zurückhielten. Mit starren Augen sah er Höfel nach, der ebenfalls zur Tür ging …
Noch eine geraume Weile standen die Häftlinge steif und stumm, nachdem sie allein waren, von der ausgestandenen Erschütterung gelähmt, bis Rose die Fäuste in die Luft warf und mit zerrissenen Nerven losschrie:
»Ich mache das nicht mit!«
Da endlich kam Leben in die Reihen, und auch Pippig erwachte aus seiner Starre. Er stürzte durch das Gewirr der sich auflösenden Reihen zu Rose, packte diesen hart und drohte mit erhobener Faust:
»Schnauze halten!«
Zweiling hatte tatsächlich abgewartet, bis alles vorüber war, erst dann erschien er auf der Kammer. Mit scheelen Blicken musterte er die Häftlinge. Im Schreibbüro saßen sie untätig an den Tischen, und an der langen Tafel im Kleiderraum standen die anderen, die offenbar auch noch nichts getan hatten und erst bei seinem Eintritt Geschäftigkeit zur Schau trugen.
Zweiling wollte die gedrückte Stimmung der Häftlinge geflissentlich übergehen und in sein Zimmer retirieren. Ein unbehagliches Gefühl überkroch ihn mit einem Male. Sollten sie es etwa wissen, dass der Zettel von ihm stammte? Erblieb unschlüssig stehen und verzog das Gesicht zu einem ungeschickten Lächeln.
»Was macht ihr für dumme Gesichter? Wo ist denn der Höfel?«
Pippig, ebenfalls an der Tafel stehend, sah Zweiling nicht an und zerrte die Verschnürung eines Kleidersackes auf.
»Im Bunker«, antwortete er finster, und Zweiling hörte den Unterton heraus.
»Hat er was ausgefressen?« Zweiling schob die Zunge auf die Unterlippe. Pippig antwortete nicht, und das harte Schweigen der anderen blockierte in Zweiling jede weitere Frage. Wortlos ging er in sein Zimmer, von den misstrauischen Blicken der Häftlinge verfolgt. Pippig schickte ihm einen unterdrückten Fluch nach. Zweiling warf den braunen Ledermantel achtlos auf einen Stuhl und überlegte. Das unbehagliche Gefühl wollte nicht weichen. Sein Instinkt sagte ihm, dass die Häftlinge auf ihn Verdacht hatten. Er blinzelte trübe vor sich hin. Das Beste war, freundlich zu sein und sich im Übrigen dumm zu stellen.
Er rief Pippig zu sich.
»Nu erzählen Sie mal, was ist los gewesen?«
Pippig antwortete nicht sofort.
In diesem Augenblick, da es um das Schicksal seiner liebsten Kameraden ging, erlebte Pippig den unwiderstehlichen Drang, das tief Menschliche aus sich hervortreten zu lassen, in der trügerischen Hoffnung, bis zum Herzen jenes durchzustoßen, der mit lauernden Augen vor ihm saß. Es wäre das Höchste und Edelste gewesen, was Pippig an einen SS-Mann zu vergeben gehabt hätte, sein ewig getretenes Menschentum, das hinter den Gitterstäben der blau-grau gestreiften Häftlingskleidung gefangen gehalten wurde. Der Drang, als Mensch zu sprechen, war so stark, dass ihm das Herz zerschmelzen wollte, und einen Augenblick lang glaubte Pippig auch wirklich an die allbezwingende Gewalt jener unzerstörbarenStimme; die Gedanken hinter seiner Stirn wollten sich schon zu Worten formen. Doch als ihm die fade Lüsternheit in Zweilings Gesicht bewusst wurde, riss es ihn zurück.
So wie seine Zebrakleidung ein Gitter war, hinter dem der Mensch niedergehalten wurde, so war die graue Uniform des SS-Mannes ein Panzer, undurchstoßbar, und dahinter lauerte es, verschlagen, feig und gefährlich, wie eine Raubkatze im Dschungel.
Vor ihm saß der Zinker, der kaltblütig genug war, das in einem schwachen Augenblick dargebotene Menschentum auszunutzen und zu vernichten, wenn es ihm zum Vorteil gereichte.
Pippig schämte sich, auch nur eine Minute lang dem Drang seines Herzens verfallen gewesen zu sein.
»Na, nu erzählen Sie mal …«
Pippigs Herz wurde kühl.
»Was soll schon los gewesen sein? Höfel und Kropinski sind wegen des Kindes in den Bunker
Weitere Kostenlose Bücher