Nadelstiche
Annabelle hatte angeboten, seine Fragen am Telefon zu beantworten, aber er wollte ihre körperliche Reaktion auf seine Fragen beobachten. Annabelle war zwar Schauspielerin, aber er sah ihr an, dass sie auch eine Frau war, die schlecht etwas verbergen konnte. Falls sie aufgrund seiner Fragen ängstlich oder gereizt oder unsicher werden würde, dann würde er das prompt an ihrem Gesicht und ihren Gesten ablesen können.
»Ms Fiore –«
»Annabelle, bitte.«
»Annabelle. Gehen wir noch mal den Abend des Überfalls durch.« Jake beugte sich in dem pfauenblauen Polstersessel vor. Bei ihrer Vernehmung im Krankenhaus hatte sie Vito Pasquarelli bereits gesagt, dass sie sich nicht an das Gesicht des Angreifers erinnern könne. Aber mitunter kehrte die Erinnerung zurück, wenn der erste Schock abgeklungen war. »Als Sie die Tür öffneten, was war da ihr erster Eindruck von der Person, die dort stand?«
»Sehen Sie, ich hab nicht mal durch den Spion geschaut, weil ich meine Freunde erwartete. Ich hab einfach die Tür aufgerissen.« Sie breitete schwungvoll die Arme aus, wobei sie nur knapp eine zierliche Lampe auf dem Beistelltisch verfehlte. »Und im Bruchteil einer Sekunde war dieser Wahnsinnige in meinem Haus.«
»Es war also nur eine Person, nicht zwei«, hakte Jake nach.
»Ja. Jetzt, wo Sie das erwähnen, fällt mir ein, dass ich für einen kurzen Moment gedacht hab: Aha, David sucht wohl noch nach einem Parkplatz.«
Jakes Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Sie dachten, David parkt den Wagen, und die Person vor ihrer Tür wäre seine Gattin? Eine Frau?«
Annabelle stützte das Kinn in die Hand. »Ich bin nicht sicher, ob die Person eine Frau war. Ich weiß nur noch, dass sie zu klein war, um David zu sein. Er ist ein kräftiger Mann, ein Meter neunzig groß, gut hundertzehn Kilo.
Und kaum hab ich das gedacht« – Annabelle schnippte mit den Fingern – »da drückt mir diese Person auch schon einen Lappen aufs Gesicht, und mir wird schwindelig und ich falle.« Sie schauderte, als sie den Moment noch einmal durchlebte, dann verstummte sie.
Jake wartete.
Annabelle blickte auf und drohte mit dem Finger. »Ich erinnere mich, dass ich die Nadel gesehen hab, ehe ich ohnmächtig wurde. Ja, ich weiß noch, dass ich gedacht hab: Das muss dieser Vampir sein, über den sie in der Zeitung berichtet haben. Und ich hab mir gesagt: Großer Gott, warum ich?«
»Das ist genau die Frage, Annabelle«, sagte Jake. »Ich möchte herausfinden, warum Sie das Ziel eines solchen Angriffs waren.«
Ihre dichten, dunklen Brauen senkten sich. »Das war doch bestimmt reiner Zufall, oder? Ich dachte, in den Zeitungen hätte gestanden, dass es keinen Zusammenhang zwischen den Überfallenen Personen gibt. Ich kenne jedenfalls keins von den anderen Opfern.«
»Nein, ich glaube nicht, dass Sie sich untereinander kennen. Aber ich glaube doch, dass es irgendeinen Zusammenhang gibt.« Jake beobachtete Annabelle genau. »Sagen Sie bitte: Waren Sie je in Argentinien?«
Sie blinzelte dreimal, schnell. »Ich bin dort aufgetreten, ja. Das Teatro Colón, das Opernhaus von Buenos Aires, ist sehr schön.«
»Und kennen Sie dort jemanden? Haben Sie vielleicht argentinische Bekannte?«
Annabelle räusperte sich. »Ah, Bekannte, nein. Ich hab keine Bekannten in oder aus Argentinien.«
Jake musterte sie. Er merkte, dass ihr unbehaglich zumute war. Sie log vielleicht nicht gerade, aber sie verschwieg etwas. »Haben Sie während Ihres Aufenthaltes dort jemanden kennengelernt, der Ihnen … unvergesslich war?«
Annabelle schleuderte mit einer Kopfbewegung die Haare aus dem Gesicht. »Da war – also wirklich, ich kann mir nicht vorstellen, dass das irgendwie von Bedeutung ist. Wie kommen Sie überhaupt auf Argentinien?«
»Drei Beweisstücke in diesem Fall haben etwas mit Argentinien zu tun. Ich suche nach mehr.«
Annabelles Augen wurden größer. Sie wandte sich von Jake ab und sagte: »Das Ganze ist mir ein wenig peinlich. Ich bin sicher, es hat nichts zu bedeuten, aber nur für alle Fälle …«
»Ich wäre Ihnen wirklich für Ihre Offenheit dankbar, Annabelle. Und ich werde die Information auch möglichst vertraulich behandeln.«
Annabelle atmete tief durch. »Vor einigen Jahren hatte ich einen kleinen finanziellen Engpass. Als ich in Argentinien auftrat, sprach mich ein Mann an und sagte, sein Vorgesetzter, General Rafael Cintron, würde mir zehntausend Dollar zahlen, wenn ich auf seiner Geburtstagsfeier singe. Also, so etwas würde ich
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