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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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frisches Stroh aus und machten ihre Kojenbetten. Dann saßen sie in schweigenden Gruppen da, die Köpfe über Bücher gebeugt. Gelegentlich gestikulierte einer in der ihnen eigenen dringlich-gemessenen Art, und dann nickte ein anderer oder schüttelte den saubergekämmten Kopf oder antwortete mit einem kurzen Fingertanz. Monsieur Lamarck, der Affen-Mann, war nirgends zu sehen und lag gewiß, betrunken schnarchend, im Sägemehl einer Spelunke.
    Ein flüchtiger Beobachter hätte denken können, daß die Affen - erfahrene kleine Artisten, perfekt programmierte Organismen - sich auch nicht einen Augenblick lang der Routine ihrer Nummern entziehen konnten und nun für »Die Affen in der Schule« probten. Tatsächlich war ihre Hingabe an das Lernen grenzenlos. Selbst die Abwesenheit Mignons, für die sie distanziertes Mitleid empfanden, störte ihre Studien nicht. Das Weibchen mit der grünen Haarschleife dachte jedoch einmal an den verwundeten Clown.
    Wenn bei den Affen auch alles ruhig war, so brachen aus den Käfigen der großen Katzen ungeheuerliche Geräusche hervor. Die Tiger brüllten, erst einer, dann ein zweiter, dann alle zusammen: Wo bleibt unser Frühstück? Gestern sind wir schon um unseren schmackhaften Clown gekommen! Jetzt wollen wir unser Rind-, unser Pferdefleisch, unsere Ziegenfüße und Ziegenrippen!
    Als sie diese Befehle sich über dem allgemeinen Lärm erheben hörte, füllte die Prinzessin ihre ausgebreiteten Arme mit blutigem Fleisch.
    Die Prinzessin von Abessinien hatte niemals - nicht einmal geschäftlich - das Land besucht, dessen Königstitel sie usurpiert hatte, noch kam sie aus irgendeinem anderen Teil Afrikas. Ihre Mutter, eine Eingeborene von Guadeloupe (auf den Inseln über dem Winde), gab zu ihrem Lebensunterhalt Klavierunterricht, bis sie eines Tages alles liegenließ und mit einem Mann davonlief, der ihre schläfrige Stadt mit einem Wanderzirkus besuchte. Dieser Mann hielt einen räudigen, zahnlosen Löwen in einem Käfig, der als eine der Sideshows während der Pause der Zirkusvorstellung gezeigt wurde, und er nannte sich einen Äthiopier, obwohl er eigentlich aus Rio de Janeiro stammte. Die Flucht trug sie nach Marseille, wo ihre Tochter geboren wurde. Ihre Eltern waren einander zugetan; die Mutter saß im Käfig und spielte Mozartsonaten. Es ging ihnen gut. Der Vater krönte sich zum König und sattelte auf Tiger um - gab es auch keine Tiger am Horn von Afrika, so stammte er ja auch nicht von dort. Beim Tode ihrer Eltern erbte die Prinzessin das Klavier und die Katzen. Sie baute die Nummer zu ihrer gegenwärtigen Brillanz auf. Soviel zu ihrer Geschichte, die geheimnisvoll nur insofern war, als sie niemand je erfuhr, da die Prinzessin mit niemandem sprach.
    In der Manege sah sie aus wie die Absolventin eines Provinz-Konservatoriums bei der Abschlußfeier: in einem weißen Kleidchen mit gestärkten Rüschen, weißen Baumwollstrümpfen, Schuhen mit Riemchen und flachen Absätzen und einer weißseidenen Schmetterlingsschleife in ihrem Haar, das, spröd-wollig abstehend, ihr halb den Rücken hinunterreichte. So spielte sie Klavier, und die Tiger tanzten.
    Zu Beginn der Nummer sprangen die Katzen in den Ring und brüllten, um ihre Wildheit zu beweisen, während die Stallknechte um die mit Gittern abgeriegelte Arena herumrannten und Platzpatronen abfeuerten. Dann kam sie herein, in ihrem Kleinmädchenkleid, und setzte sich an den Bechsteinflügel.
    Dies war der einzige Moment - wenn sie sich mit dem Rücken zu ihnen hinsetzte -, daß sie sich einsam fühlte. Unruhig. Bei den ersten Akkorden sprangen die Katzen (die sie nicht sehen konnte) auf die halbkreisförmig angeordneten Podeste, die für sie bereitstanden, und saßen hockend da, hechelnd, mit sich selbst zufrieden wegen ihres Gehorsams. Und dann kam es ihnen, immer wieder als neue Überraschung, wie oft sie auch auftraten, daß sie nicht in Freiheit gehorchten, sondern einen Käfig gegen einen größeren getauscht hatten. Dann - nur einen unbeschützten Augenblick lang - vertieften sie sich in das Geheimnis ihres Gehorsams und erstaunten darüber.
    Nur diesen einen Augenblick lang, da sie wußte, daß sie sich fragten, was um alles in der Welt sie hier eigentlich zu suchen hatten, während ihr verletzbarer Rücken ihnen zugekehrt und ihre beredten Augen abgewandt waren, diesen einen Augenblick fühlte die Prinzessin ein wenig Angst und fühlte sich vielleicht ein wenig menschlicher, als sie es gewohnt war. Dann dachte sie manchmal,

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