Nächte in Babylon
der provenzalischen Küche hoch. Vollkommen undenkbar, dass man dem Gast hier eine Bouillabaisse servierte, solange dieses Gericht in anderen Etablissements, die näher am Meer lagen, auf den Tisch kam. Die paar Hundert Meter Entfernung bis zum Strand gaben den Ausschlag. Michel Cotas, der derzeitige Besitzer, bezog seine Meeresfrüchte – wie bereits sein Vater und dessen Vater vor ihm – bei der Familie Sangiovese, die ihre Fänge schon seit dem Sturm auf die Bastille in Antibes anlandete. Die Hühner wurden zwei Mal in der Woche aus Bresse eingeflogen. Sie trugen ihre Gütesiegel wie Orden und wurden mit dem Respekt behandelt, der diesen im Kampf für die französische Küche gefallenen kleinen Helden der Republik gebührte. Die glücklichen Lämmer zupften und rupften ihre Gräslein auf bretonischen Salzwiesen, während sich die Rinder auf den satten Weiden von Limoge fett fraßen wie lateinamerikanische Diktatoren. Sogar das Gemüse hatte einen Stammbaum. Vertraglich an das Restaurant gebundene Kleinbauern lieferten des légumes , so frisch, dass es noch würzig nach feuchter Erde duftete, bis vor die Tür. Die Liebe der Familie Cotas zum Geld war groß, aber ihr Stolz auf die Bewahrung ihres Erbes war um einiges größer. Die Slowfood-Bewegung? Konnte ihnen den Buckel runterrutschen. Die Molekularküche? Science-Fiction.
Thierry fuhr mit dem schwarzen Mercedes vor. Vignon stieg als Erster aus. Er ging ins Restaurant, um zu überprüfen, ob alles nach Wunsch arrangiert war, dann kam er zurück, um Spandau und Anna mit finsterer Miene hineinzubegleiten. Sollten sie ihm ruhig anmerken, dass er vor Wut kochte. Mit Perec in der Stadt hielt er diesen Ausflug für eine gefährliche Schnapsidee. Außerdem fand er es nicht besonders prickelnd, dass Spandau zusammen mit Anna speisen durfte, während er selbst draußen mit Thierry im Wagen warten musste. Das Restaurant war bis auf den letzten Platz ausgebucht, und selbst Annas Tisch hatte nachträglich aufgebaut werden müssen. Sie würde ihnen später etwas zu essen in die Limousine bringen lassen. Es war erniedrigend.
Cotas empfing sie mit einer überschwänglichen Begrüßung und geleitete sie zu ihrem Tisch, der, vor neugierigen Blicken geschützt, hinter einem großen Paravent stand. Die vereinzelten Gäste, die Anna erkannten, handelten sich von Vignon derart drohende Blicke ein, dass sich niemand traute, sie um ein Autogramm zu bitten.
»Wenn was ist, ich bin draußen«, erklärte er überflüssigerweise, sah Spandau noch einmal eisig von der Seite an und verzog sich.
Auf dem Tisch, der auf dem unebenen Boden leicht wackelte, lag eine verschossene provenzalische Decke. Die Stühle ächzten laut bei jeder Gewichtsverlagerung. Die Teller waren so alt, dass sich ihre Glasur in ein Muster aus haarfeinen Krakeleerissen verwandelt hatte. An der Wand hing ein Regal mit Fächern für die Servietten längst dahingeschiedener Stammgäste. Ohne die leiseste Rücksicht auf ihre eventuellen Essenswünsche empfahl Cotas ihnen einen Rosé aus der Region, der bereits vor ihnen stand, bevor sie gewählt hatten. Obwohl normalerweise weder Spandau noch Anna einen Rosé bestellt hätten, besaß der perfekt gekühlte Wein eine klare Frische, die den Gaumen aufs Schönste auf die bevorstehenden Freuden einstimmte. Anna orderte Lamm, Spandau Huhn.
»Ich weiß ja nicht, wie du das siehst«, sagte Anna. »Aber für mich rangiert Le Vent Provençal unter den romantischsten Restaurants aller Zeiten.«
»Viel romantischer geht es wirklich nicht mehr.«
Sie atmete tief ein. »Riechst du das? Die Kräuter? Denkst du, ich bin die letzte Frau auf der Welt, die Knoblauch noch sexy findet?«
»Du findest doch alles sexy.«
»Wo du recht hast, hast du recht. Zumindest bei den Dingen, auf die es im Leben ankommt. Wenn jemand mit Liebe bei der Sache ist, wenn er sich große Mühe gibt und sich viel Zeit nimmt, um dich zu verwöhnen, ja, dann ist das sexy. Und wie! Mit dem Essen ist es eben wie mit der Liebe. Es geht darum, den anderen glücklich zu machen. Essen ist sinnlich, und Essen macht sinnlich. Na, kommst du schon auf Touren?«
Umspielt von den köstlichen Düften, die aus der Küche herüberzogen, widmeten sie sich dem Rosé und unterhielten sich. Der Wein half ihnen gegen die Nervosität und lockerte ihre Zungen. Sie sprachen über ihre Kindheit. Über gescheiterte und erfüllte Hoffnungen. Über ihre Berufe. Auch über frühere Liebesgeschichten sprachen sie, aber nur über die
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