Nana
geblieben, als das dumpfe Bedürfnis zu erfahren. Aber es befiel ihn die Langeweile, die ihn unter diesem Tor fast einschläferte; um sich zu zerstreuen, suchte er zu berechnen, wie lange er noch zu warten habe. Sabine mußte um neun Uhr am Bahnhofe sein, das machte fast fünfeinhalb Stunden. Er wurde geduldig; er rührte sich nicht von der Stelle; er wollte ausharren und sollte diese Nacht ewig währen.
Plötzlich verlosch der Lichtstreif am Fenster. Diese höchst einfache Tatsache war für ihn ein unerwartetes Ereignis, etwas Unangenehmes, Verwirrendes. Offenbar hatten sie die Lampe ausgelöscht, um zu schlafen, was zu dieser Stunde begreiflich war. Er aber geriet in Aufregung darüber, denn dieses dunkle Fenster interessierte ihn nicht mehr. Er sah noch etwa eine Viertelstunde hinauf, dann ermüdete ihn die Sache; er verließ seinen Standplatz unter dem Tor und machte einige Schritte auf dem Fußsteige. So ging er bis fünf Uhr auf und ab, von Zeit zu Zeit die Augen erhebend. Das Fenster blieb dunkel und still; er fragte sich zuweilen, ob er nicht geträumt habe, da oben Schatten gesehen zu haben. Eine ungeheure Müdigkeit drückte ihn nieder, eine Erschlaffung, in der er vergaß, was er an dieser Straßenecke erwartete, wo er über das Straßenpflaster stolperte und fröstelnd aus einer Träumerei auffuhr. Es gab nichts, was dieser Sorge und Mühe wert wäre ... Wenn diese Leute schlafen, so läßt man sie schlafen; wozu sich in ihre Angelegenheiten mengen? Es war sehr finster; niemand erfährt von diesen Dingen. Jetzt verschwand alles, selbst die Neugierde, aus seiner Seele; er wollte ein Ende machen und Trost suchen. Es wurde kälter, er fand die Straße unerträglich; zweimal entfernte er sich und kehrte langsamen Schrittes wieder zurück, um sich dann noch weiter zu entfernen. Es war aus ... Es gab für ihn nichts mehr ... Er ging bis zum Boulevard hinauf und kehrte nicht mehr zurück.
Allein irrte er nun in den stillen, öden Straßen umher, immer langsam an den Mauern der Häuser entlang. Seine Schritte schallten laut auf dem Straßenpflaster; er sah nichts als seinen eigenen Schatten sich drehen und wenden, seinen Schatten, der bei jeder Gaslaterne größer wurde, um sich dann wieder zu verkleinern. Dieser Anblick war ihm eine mechanische, einlullende Beschäftigung. Er wußte nicht, wo er vorbeikam; es schien ihm, als drehe er sich im Kreise. Eine einzige Erinnerung war ihm deutlich geblieben. Plötzlich befand er sich vor der Passage der Panoramen, das Gesicht fest an die Eisenstäbe des geschlossenen Gitters gedrückt. Er starrte hinein, vermochte aber nichts zu unterscheiden in der finsteren, verlassenen Galerie, aus welcher der Wind ihm die Feuchtigkeit eines Kellers ins Gesicht trieb. Dann fuhr er wieder empor und fragte sich, was er um diese Stunde hier an diesem Gitter suche? Er nahm seinen Weg durch die Straßen von Paris wieder auf, das Herz erfüllt von einem Gefühle unendlicher Trauer und Verlassenheit.
Endlich brach der Tag an, ein trüber, feuchter, schmutziger Wintermorgen. Muffat war in die breiten Straßen zurückgekehrt, die um die neue Oper angelegt wurden. Der lehmige Boden war durch den nächtlichen Regen und die Eindrücke der Wagenräder in einen ungeheuren Morast verwandelt. Ohne zu schauen, wohin er den Fuß setzte, ging Muffat immer fort, öfter ausgleitend und sich an den Mauern festhaltend. Dieses Erwachen von Paris, die Karren der Straßenreiniger, die ersten Gruppen von Arbeitern brachten, je heller der Morgen wurde, neue Unruhe. Alle diese Leute betrachteten neugierig diesen verstörten Menschen mit dem regentriefenden Hute und den schmutzbefleckten Kleidern. Er flüchtete hinter die Baugerüste, um sich den Blicken der Neugierigen zu entziehen. In der Leere seines Wesens war ihm ein Gedanke geblieben: daß er sehr elend war.
Jetzt dachte er an Gott. Dieser plötzliche Gedanke an einen überirdischen Trost überraschte ihn wie eine unerwartete, seltsame Sache. Es erweckte in ihm die Erinnerung an Venot; er sah seine untersetzte, dicke Figur, seine schlechten Zähne. Gewiß, Venot, den er seit drei Monaten durch sein Benehmen untröstlich machte, würde sich glücklich schätzen, wenn er jetzt zu ihm flüchte, um in seinen Armen zu weinen. Früher war er vor solchem Jammer bewahrt. Bei dem geringsten Kummer, der im Leben ihn getroffen, trat er in eine Kirche, ließ sich in Anbetung des Allmächtigen auf die Knie nieder und verließ das Gotteshaus gestärkt durch das
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