Narben
Dahinter begann der Wald mit dichtem Unterholz. Auf der Rückseite des Hauses gab es weder eine Terrasse noch Balkons, nur Fenster und eine einzelne Tür. Hinter dreien der Fenster im Erdgeschoß waren die Vorhänge zugezogen.
»Ist das sein Schlafzimmer?«
»Ja. Früher war es die Bibliothek, aber da er die Treppen nicht mehr hochkommt, schläft er jetzt dort.«
Sie wollte weitergehen, doch als sie merkte, daß ich immer noch zum Haus schaute, blieb sie neben mir stehen.
»Es ist häßlich, nicht wahr?«
»Es ist eben nur eine große Blockhütte.« Ich spürte ihren Arm an meiner Hand.
»Arbeiten Sie schon lange für ihn?«
»Seit sechs Monaten.«
»Was sind Sie von Beruf?«
Sie lachte. »Ich bin Schriftstellerin.«
»Was schreiben Sie?«
»Meistens Lyrik. Ich überlege aber, ob ich vielleicht ein Bühnenstück anfange.«
»Kommen Sie von der Ostküste?«
»Nein, aus dem Norden.«
»Wie sind Sie an Lowell geraten?«
»Ich schrieb ihm einen Verehrerbrief, und er antwortete. Als ich zurückschrieb, schickte er mir einen noch längeren Brief. Es entstand ein reger Briefwechsel. Nach einigen Monaten machte er mir das Angebot, als persönliche Assistentin für ihn zu arbeiten. Daß ich ihm die Windeln wechseln muß, fand ich erst heraus, als ich schon hier war.«
»Aber Sie sind trotzdem geblieben.«
»Na klar«, erwiderte sie und ging weiter. »Wie könnte ich solch ein Angebot ablehnen?«
Sie blieb stehen und drehte das Funkgerät lauter. Außer Rausehen war nichts zu hören. Sie drehte es wieder leise, ging jedoch nicht weiter.
»Ich habe gehört, daß das hier früher eine Künstler und Schriftstellerkolonie war.«
»Das ist sehr lange her.«
»Eine verlockende Idee, solch eine Kolonie, finden Sie nicht?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, die Welt holt einen überall ein.« Sie drehte sich um, und wir gingen langsam zum Haus zurück.
»Sie sind also eine seiner Verehrerinnen?«
»Absolut.«
»Irgendein Buch im besonderen?«
»Nein, ich liebe sie alle.«
»Waren seine Gedichte zuletzt nicht ziemlich frauenfeindlich?«
Sie lächelte. »Sie meinen, ich verrate mein Geschlecht, wenn ich ihn verehre? - Ja, Frauen sind für ihn nur Fleisch. Er faßt mir mindestens einmal am Tag an den Hintern. Doch wenn Frauen ehrlich wären, würden sie zugeben, daß Männer für sie auch nichts anderes sind als Fleisch. Buck sagt es nur offen, mehr steckt nicht dahinter.«
»Wie war eigentlich das Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohn Peter?«
»Ich habe das kleine Arschloch nur einmal getroffen. - Ja, so habe ich ihn gesehen: ein feiger Waschlappen, der nur zu seinem Vater kam, wenn er Geld brauchte. Ich habe ihn dabei erwischt, wie er Bucks Ampullen zu stehlen versuchte. Ich sagte ihm, er solle sie zurücklegen, oder ich würde es seinem Vater erzählen. Sie hätten ihn sehen sollen. Er hat es nie wieder versucht. - Ich hoffe, die Tochter hat mehr Rückgrat. Bringen Sie sie her. Was hat er denn sonst noch? Ist es nicht sein Recht, sie zu sehen?«
»Er war nicht gerade ein Mustervater.«
»Er hat es versucht. Er hat sich aus dem Leben seiner Kinder herausgehalten, um sie nicht mit seinem Genie zu überschatten. Er hat ihnen Geld gegeben. Womit hätte Peter denn sonst den Stoff bezahlen sollen, nachdem er seine Erbschaft verplempert hatte?«
»Warum legt Buck solchen Wert darauf, Lucy zu sehen?«
»Weil er ihr Vater ist. Eine Tochter sollte in der Lage sein, ihrem Vater in die Augen zu schauen. Wenn sie das nicht kann, ist ihr nicht zu helfen. Schließlich ist sie sein Fleisch und Blut.«
Aus dem Funkgerät kamen Geräusche, erst leises, wortloses Jammern, dann lauter. Am Ende eine Flut von Schimpfworten.
»Das Baby ist aufgewacht.«
»Sie warten besser hier«, sagte sie, als wir in der Halle waren, und ließ mich allein mit den Jagdtrophäen. Ich spazierte in dem riesigen Raum herum und lauschte dem Geschrei aus Lowells Schlafzimmer, bis sie ihn nach ein paar Minuten hereinschob.
Er schlug auf die Räder seines Rollstuhls. »Der Jude!« Nova rollte ihn langsam auf mich zu. »Der Judenjunge!« Speichel lief ihm übers Kinn. Er rieb sich die verkrusteten Augen.
»Und erzähl mir nicht, du wärst nicht beschnitten. Du glaubst, du wüßtest alles besser und hättest das Recht, deine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Jeder Psychologe, den ich getroffen habe, hat so gedacht. Deswegen sind alle Psychologen verdammte Juden.«
Ich betrachtete eine ausgestopfte Eule an der Wand.
»Wo ist
Weitere Kostenlose Bücher