Narr
Wären da nicht die dunkelgrünen Granaten mit dem gelben Kreuz als Reisebegleiter gewesen …
Der alte Waggon rumpelte in Schrittgeschwindigkeit über die Weichen des kleinen Bahnhofs und auf die neue Ziegelmauer zu. Paul sah nach vorne und wusste mit einem Mal, dass der Waggon niemals durch das Loch, das Johann gesprengt hatte, passen würde.
»Du musst den Wagen in Schrittgeschwindigkeit halten, denk an das starke Gefälle«, ermahnte Georg Eddy, der an der Bremse kurbelte, bis sich die Bremsbacken jaulend auf die Metallräder legten. Die Wirkung jedoch war mehr als fragwürdig.
»Bremse lösen!«, rief Paul von der vorderen Plattform und dann: »Festhalten!«, als die Mauer immer näher kam. Der Waggon ratterte über Ziegelreste auf den Schienen und stieß durch die Wand, Scheiben zerbrachen knallend und ein Glassplitterregen ging nieder, wie ein Sommergewitter. Ziegel flogen in alle Richtungen, der Wagen schien kurz zu zögern, blieb fast stehen, doch dann nahm er erneut Fahrt auf. Eddy zog die Bremse wieder an und versuchte, das Tempo des Wagens zu verringern. Ein ohrenbetäubendes Quietschen erfüllte den dunklen Tunnel.
Das Team unter der Führung von Valerie und Berner lief auf dem zweiten Gleis neben dem Wagen her, als Paul und Georg begannen, einzelne Granaten an die Männer hinunterzureichen, die sie vorsichtig neben den Schienen auf den Schotter legten und dann wieder versuchten, sprintend aufzuholen. Es war ein ungleicher und kräftezehrender Staffellauf und der Waggon wurde immer schneller.
»Lasst rund fünfzig Meter Abstand zwischen den einzelnen Granaten«, rief Valerie im Laufen und rannte dann voraus, um den Wagen zu überholen, der geisterhaft durchs Dunkel rollte. Die Lichtkegel der Scheinwerfer sprangen wie Irrlichter durch den Tunnel. Berner versuchte, mit zwei der starken Lampen den jeweiligen Granatenträgern den Weg zu beleuchten. Trotzdem stolperten die Männer immer wieder. Georg verdrängte den Gedanken daran, was passieren würde, wenn einer von ihnen fiel und eine Granate mit ihrem gläsernen Giftgasbehälter hart auf den Boden knallte.
Der Waggon wurde noch schneller.
»Eddy, langsamer!«, schrie Wagner verzweifelt, als Frank mit einer Senfgasgranate im Arm den Halt verlor, auf dem Schotterbett ausrutschte und um ein Haar unter den rollenden Waggon geraten wäre. Im letzten Moment fing er sich und legte das Geschoss vorsichtig neben die Schienen. Dann sprintete er wieder los, um aufzuschließen.
»Die Bremse ist am Anschlag«, schrie Eddy zurück und drehte noch stärker an dem Messingrad. Das Quietschen wurde zwar noch lauter, der Waggon jedoch kaum langsamer. Von Schrittgeschwindigkeit war keine Rede mehr. Helmut rannte als Nächster neben dem Wagen her, und als Georg ihm eine weitere Granate hinunterreichte, brach die Bremse endgültig.
Der Waggon beschleunigte augenblicklich und die Männer blieben nach und nach immer weiter zurück. Valerie, die vorausgeeilt war, versuchte noch eines der Geschosse von Paul zu übernehmen, scheiterte, fiel zurück und dann warf Georg ihr die Granate von der hinteren Plattform aus zu, als er sah, dass sie nicht näher an den Wagen herankommen konnte. Sie fing das Geschoss mit beiden Händen, verlor den Halt, stolperte und fiel der Länge nach hart auf den Schotter. Dann verschwanden sie und das Team in der Dunkelheit und die drei Männer im Waggon rollten immer schneller stadteinwärts, mit zehn Granaten als tödlicher Fracht.
Die plötzliche Ruhe war gespenstisch. Nur das Rauschen des Fahrtwindes durch die zerbrochenen Scheiben und das Rumpeln der Räder auf den Schienen waren zu hören.
Paul und Georg sahen sich im Licht des letzten Handscheinwerfers im Abteil entsetzt an. Beide dachten an die restlichen Granaten, die nächste Mauer, den fünfzehn Tonnen schweren Waggon und schließlich an die Weiche beim Tiefspeicher der Nationalbibliothek. Eddy blickte ratlos nach hinten, wo das Team verschwunden war.
»Die Kombination ist tödlich.« Paul sprach aus, was ihnen allen durch den Kopf ging, als Georgs Blick auf die Rucksäcke fiel.
»Schnell!«, stieß er hervor. »Helft mit.« Dann schnappte er sich eine Granate, riss den ersten Rucksack auf, stopfte das Geschoss hinein, eilte zurück zur Plattform und ließ den schweren Rucksack vorsichtig bis aufs Schotterbett sinken. Mit ausgestrecktem Arm ließ er los und der Rucksack verschwand kullernd in der Dunkelheit.
»Spitzenidee!«, rief Paul, der bereits die nächste Granate verstaute.
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