Narrenspiel: Peter Nachtigalls dritter Fall (German Edition)
vor Mitgefühl zitternder Stimme.
Paul legte den Kopf leicht schief und versuchte ein Lächeln, das nicht zu strahlend ausfallen durfte. Sein Innerstes ging schließlich niemanden etwas an und er hatte nicht vor den Versammelten tiefere Einblicke zu gewähren.
Artig bedankte er sich und schob dann die matronenhafte Frau energisch wieder an ihren Platz zurück.
»Die Sitzung werden wir wie geplant durchführen. Es gibt keinen Grund, an der Tagesordnung irgendetwas zu ändern. Der Tod ist Teil des Lebenszyklus, selbst dann, wenn er gewaltsam war«, stellte er mit fester Stimme klar.
Allgemeines Gemurmel lobte ihn für seine Tapferkeit.
»Die heutigen Vorkommnisse werten wir erst am Mittwoch aus, wenn sich die Eindrücke bei uns gesetzt haben. Besser, wir lassen uns etwas Zeit, all das zu verarbeiten, bevor wir über mögliche Konsequenzen diskutieren.« Wieder signalisierte die Gruppe Zustimmung.
Er nahm an einem der U-förmig aufgestellten Tische Platz und verlas den ersten Punkt der Tagesordnung:
»Punkt 1 befasst sich mit der Frage einer Verschärfung der Aufnahmekriterien. Wir sollten klare Gründe formulieren, jemandem die Aufnahme in unsere Gruppe zu verweigern. Warum sollten wir Antragsteller abweisen und wie müssen die Kriterien aussehen, nach denen wir diese Entscheidung fällen?«
Er sah sich nach Wortmeldungen um, während er per Handzeichen ein Glas Mineralwasser bei der Bedienung bestellte.
Wohlgefällig ruhte sein Blick auf den Anhängern der neuen Bewegung. Toll sahen sie aus in der Farbe des Wassers einer Lagune, vertrauenerweckend, beruhigend, unaufgeregt. Blau signalisierte Klarheit und Reinheit aber auch Geborgenheit – wie man es in einer geschützten Bucht fand. Genau so, wie er es sich vorgestellt hatte.
»Nun, wir bekommen immer mehr Anträge von Leuten, denen es nicht ernst ist mit unserer Bewegung. Sie finden es nur chic oder kultig, zu uns zu gehören, unser Outfit macht sie an, sie finden die Farbe total angesagt – doch an ihrem Leben ändern sie rein gar nichts!«, empörte sich Miki und sofort zogen sich hektische Flecken über Gesicht und Dekolleté. Ihre glatten, braunen Haare hingen wie gebügelt herunter bis auf die Schultern, ihre abstehenden Ohren sahen an beiden Seiten hervor. Nun fuhr sie nervös mit den Fingern durch das Haar, schaffte es aber nicht im Mindesten, eine Form von Unordnung anzurichten.
Paul ließ die Äußerung unkommentiert im Raum stehen. Er wusste aus Erfahrung, dass sich nun ganz ohne sein Zutun ein heftiger Disput entwickeln würde.
»Aha!«, giftete prompt die stämmige, blonde Sabine, »du willst also Spitzel auf die Mitglieder ansetzen, um zu überprüfen, ob sie sich regelkonform verhalten: keine Gameshows mehr, kein Alkohol, keine sinnlosen Spaziergänge mehr im Internet, kein Liebesroman am Bett, kein Braten im Topf! Sag mal, spinnst du?«
»Ich meine doch nur, wir sollten Verhaltensregeln, die wir aufstellen, auch kontrollieren! Sonst brauchen wir sie nicht erst zu formulieren! Rules you don’t control are senseless! sagen die Engländer. Und vielleicht lesen wir dann bald eine megatolle Schlagzeile: Familienvater, Mitglied der Mind Watchers, missbrauchte jahrelang seine Kinder (5 und 7 Jahre alt)! Das wäre unser Untergang! Niemand nähme uns mehr ernst!«, wehrte sich Miki und zustimmendes Geraune signalisierte breites Einverständnis der Gruppe.
»Psychisch Kranke findest du in jeder Gruppierung! Niemand käme auf die Idee zu glauben, nur weil wir Gewaltfreiheit propagieren, gäbe es keine schwarzen Schafe in der Gruppe. Das wäre doch auch ausgesprochener Schwachsinn!«, entkräftete Dörte, eine Mitvierzigerin mit praktischem Kurzhaarschnitt und offenem Gesicht Mikis Argument.
»Genau«, steuerte überraschend Gerald bei, der sich sonst eher schüchtern zurückhielt, »nicht jeder, der bei Greenpeace mitmacht, trennt seinen Müll ordentlich und erzieht seinen Hund ohne Schläge!« Seine langen, schütteren Haare waren wie immer zu einem dünnen Schwänzchen zusammengebunden und seine Augenbrauen huschten unzählige Male vor Aufregung zum Haaransatz und zurück.
»Äh, äh, ich muss was sagen. Ich habe da ein Problem!«, outete sich Niels, ein schmächtiger, junger Mann mit spitzem Kinn und geflochtenem Bärtchen. Seine langen, lockigen Haare, die ihm bis zum halben Rücken hinunterfielen, ließen den Gesamteindruck eines skandinavischen Jesusverschnitts entstehen. Als er nun ins Stocken geriet, wandte sich ihm die gesamte Gruppe
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