Natascha
Sie's?«
»Ein Rätsel ist's.« Natascha hob die Schultern. »Wenn wir alle ausgeblutet sind und ermattet auf der Erde liegen – man nennt's Frieden dann –, wird es uns allen ein Rätsel sein.«
»Aber die rote Fahne wird über der Welt wehen!« sagte Werjowkin stolz.
»Mag sie es! Ich werde zurückgehen nach Krassnoje Mowona.«
»Sie werden eine Heldin der Nation sein, Genossin! Moskau wird Sie kommen lassen –«
»Was soll ich dort? Fedja ist tot, Mamaschka und Papaschka sind tot, alle werden tot sein, die ich kannte, und die Erde wird verbrannt sein und getränkt mit dem Blut. Was soll ich da in Moskau? Am Wald will ich wohnen, ganz allein, und aus den Trümmern der Datscha baue ich mir eine neue Hütte … nichts mehr sehen will ich von allem, nur leben, ganz frei leben –«
»Sie haben merkwürdige Gedanken, Genossin Leutnant.« Major Werjowkin schüttelte den Kopf. Unbegreiflich war ihm vieles, seit er in den Sümpfen abgesprungen war. Hier kämpften Menschen, die wie Ratten lebten, mit dem Mut von Löwen, aber sie waren keine Bolschewisten, sondern Männer und Frauen, die nur an Freiheit dachten, eine andere Freiheit, als sie in Moskau gelehrt wurde. Fanatisch waren sie, aber gegen alles, was Zwang hieß, auch wenn es Befehle aus Moskau waren. Ungeheuerlich war das … man durfte es nicht nach Moskau funken, um nicht sofort verurteilt zu werden.
»Wir müssen unsere Einsätze abstimmen!« sagte Werjowkin. Er ging zum Militärischen über, weil das Politische zu unbequem war. »Ich habe den Befehl –«
»Aus Moskau wieder, ich weiß.« Natascha steckte die Hände in die weiten Taschen ihrer Uniformhose. »Wir sind am stärksten in kleinen Gruppen, Genosse Major. Das haben wir in zwei Jahren gemerkt! Je größer die Truppe, um so leichter ist sie zu stellen. In den Sümpfen ist der einzelne so viel wert wie eine Kompanie … eine Kompanie aber weniger als ein einzelner! Melden Sie das nach Moskau!«
»Das ist unmöglich, Genossin!« Major Werjowkin wurde laut. Es ging nicht an, daß eine Frau ihm widersprach. Er war gewohnt, daß man Befehle ausführte, ohne zu fragen, ob es Sinn hatte. Den Sinn diktierte Moskau.
Luka hob die mächtige Hand und schwenkte sie durch die Luft. Sein breites Gesicht lächelte.
»Nicht brüllen, Brüderchen«, sagte er gemütlich. »Dein Köpfchen zerquetsche ich wie eine Tomate. Du glaubst es doch, nicht wahr?«
Werjowkin schluckte. Er sah sich um. Hinter ihm, in fünf Meter Entfernung, standen Kotelnikow und Krepychew. Sie waren keine Hilfe, sie waren ebenso aus allen Fugen geraten wie alle, die durch die Sümpfe krochen und die zu einer Form zu gießen Moskau ihm befohlen hatte.
»Was hier gemacht wird, ist kein organisierter Widerstand!« schrie Werjowkin. »Seht es doch ein! Die Deutschen werden zurückgehen … im Winter wird's geschehen, es ist ganz sicher! Dann muß hier eine zweite Front stehen, in ihrem Rücken. Begreift ihr Idioten es denn nicht?! Zermahlen wollen wir sie, wie reifes Korn zwischen zwei Steinen! Ihr seid wie Bremsen, die hier und da einmal stechen … damit gewinnt man keinen Krieg!« Werjowkin sah sich um. Sein Gesicht war rot im Zorn. »Außerdem seid ihr alle Soldaten! Ihr habt zu gehorchen!«
»Ein Bär, der brüllt, kann keinen Honig fressen!« sagte Luka. »Komm, Täubchen … lassen wir ihn seinen Krieg führen. Er wird schnell in die Erde kommen. Er kennt ihn nicht, den Krieg in den Sümpfen …«
»Schade, Genosse Major.« Natascha wandte sich ab. Sie hörte noch, wie Werjowkin ihr nachrief, stehenzubleiben. Doch sie ging weiter, den Kopf weit im Nacken. Hinter ihr tappte Luka, mit seinem riesigen Körper ihre schmale Gestalt verdeckend. Ein lebender Schild, der alles abfing, was ihr gelten sollte.
Mit zusammengepreßten Lippen sah Major Werjowkin ihnen nach.
Kurz vor Einbruch des Regens, der den Herbst überleitet in den Winter, ging eine Kampfgruppe deutscher Infanterie in die Pripjetsümpfe.
Vorher hatten Flugzeuge das Gelände in tagelanger Arbeit fotografiert und dann mit Bomben belegt. Nach den Bomben hämmerte die deutsche Artillerie zwei Tage lang auf die bekanntgewordenen Inseln und Wege der Sümpfe. Wenn auch die meisten Bomben und Granaten in den Sumpf fielen und unkrepiert versanken, so trafen doch einige mitten in die Lager hinein. Vor allem die Kommandoinsel Major Werjowkins ging in einem Granathagel unter.
Nach dem Artilleriefeuer ging die Kampfgruppe der Deutschen in den Sumpf. Sie tat es vorsichtig, mit
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