Natascha
sah. Durch den Sumpf, durch den Brei ohne Grund, rannten geduckte Gestalten, schießend und plötzlich »Urrräääh!« schreiend. Es war ein Wunder, das auf ihn zurannte, ein tödliches Wunder, das ihm die Angst in die Kehle trieb und ihn grell aufschreien ließ.
Auch Leutnant Klaus Gebhardt begriff es nicht. Ein Schuß hatte seine Brust aufgerissen, ein Explosivgeschoß, das die rechte Brustseite auffetzte und zwei Rippen vom Fleisch trennte. Mit beiden Händen preßte er die Lappen von Uniform und Hemd in die Wunde und rannte weiter, seitlich weg in den Sumpf hinein, ziellos und einfach geradeaus, und es war Boden unter ihm, wo er lief, ein zwar schwankender Grund, aber er trug ihn.
Plötzlich war es still um ihn. Wie abgestorben lag der Sumpf da. Er konnte es nicht glauben, blieb stehen und drehte sich herum. Nur ein Mann verfolgte ihn … nicht rennend wie er, sondern langsam gehend, fast ihm nachschlendernd. Er hatte Zeit, der Verfolger, er wußte, daß der Weg bald zu Ende war.
Leutnant Gebhardt schwankte. Er hielt sich an einigen Schilfbüscheln fest und versuchte, tief zu atmen. Dann tastete er nach seiner Pistole. Er hatte sie beim Lauf aus der Tasche verloren. Wehrlos stand er dem Mann gegenüber, der langsam näher kam, die Maschinenpistole lässig vor die Brust gehängt.
Warum schießt er nicht? dachte Gebhardt. Mein Gott, wenn er doch schießen würde. Aber dieser stumme, langsam kommende Tod, das ist grauenvoll. Er machte einige Schritte zurück, der Weg rutschte unter ihm fort, er sank in den Sumpf und stak bis zu den Hüften im saugenden Brei.
»Streljatj!« schrie Klaus Gebhardt, als die braungrüne Gestalt vor ihm im Schilf stand. Vor seinen Augen flimmerte es. »Schießen!« brüllte er noch einmal auf russisch.
»Sa schto?« (Warum?)
In Klaus Gebhardt erkaltete das Blut. Eine weibliche, helle Stimme. Eine ganz ruhige Stimme. Der junge Leutnant preßte wieder die Hände auf die große Brustwunde und hustete Blut.
»Du bist es also …«, sagte er dann. Er war bis zu der Gürtellinie versunken und der stinkende Moorbrei saugte ihn weiter hinunter.
»Wer bin ich?« fragte Natascha. Sie setzte sich an den Wegrand und sah auf Gebhardt, stützte das Gesicht in beide Hände und blickte ihn an, als sei es ein gutes Schauspiel, das er darbot.
»Natascha Astachowa …«
»Du kennst mich, Offizier?«
»Nur den Namen. Ich habe mir dich anders vorgestellt.«
»Wie denn?«
»Wie der Satan!«
»Ich bin der Satan, Offizier!«
»Und siehst aus wie ein Engel –«
Um sie war eine Stille, als habe der Tag gerade begonnen, an dem das Leben erschaffen werden sollte. Langsam sank Gebhardt tiefer, und es war ihm, als lasse sich jetzt auch der Sumpf Zeit, ihn aufzusaugen.
»Ich bin kein Engel!« sagte Natascha hart. »Hier sitzen werde ich und zusehen, wie du versinkst. Und freuen werde ich mich darüber!«
»Das ist dein Recht –«
»Mein Recht?«
»Ich bin dein Feind.« Klaus Gebhardt hustete wieder. Zwischen seinen Fingern tropfte das Blut durch die Uniformfetzen in den Morast.
»Hast du keine Angst vor dem Tod, Offizier?«
»Doch. Ein bißchen … Nein, ich lüge … ich habe wahnsinnige Angst vor dem Tod! Wir alle haben Angst vor dem Tod, auch du …«
»Ich nicht!«
»Jetzt lügst du, Natascha …«
Es durchfuhr sie wie ein Schlag, als er ihren Namen nannte. Sie starrte ihn an. Blonde Haare hat er, wie Fedja, dachte sie. Und so jung wie er ist er … und so schön … und seine blauen Augen hat er, große, blaue Augen, in denen sich der Himmel spiegelt und die Sterne glänzen, bevor die Nacht kommt … Fedja hat man den Schädel mit einem Spaten gespalten, und ihm zerfetzte man die Brust, und ich sitze dabei, wie er im Sumpf versinkt, langsam, Zentimeter um Zentimeter …
»Hast du eine Frau?« fragte sie und beugte sich vor.
»Nein. Ich bin erst vierundzwanzig Jahre alt.«
»Eine Verlobte?«
»Ja. Ich hatte sie.«
»Sie ist dir weggelaufen?«
»Nein. Sie lebte in Minsk. Sie war bei der deutschen Bahn, weißt du. Dienstverpflichtet. Eines Tages kam sie nicht zum Dienst. Zuletzt hatte man sie aus dem Kino kommen sehen – später fand man sie. Man hatte sie in einen Flur gezogen und ihr die Kehle durchgeschnitten! Partisanen … Nie hat sie einem Menschen ein Leid getan. Nie! Und man schneidet ihr die Kehle durch, nur, weil sie eine Deutsche ist! Da habe ich mir geschworen, keinen Partisan, den ich jemals sehen werde, leben zu lassen …«
»Ich kann's verstehen!« Natascha nickte.
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