Nathanael
strich über seine Stirn.
Der Schmerz klang langsam ab. Er blinzelte und stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass sich die schwammigen Konturen vor seinen Augen zu einem klaren Bild formten. Tessas Gesicht.
«Ich dachte schon … der Dämon … War das Gift?» Sie stockte und sah zu ihm auf.
«Ja, Dämonengift. Er hat mir mit seiner Kralle Gift gespritzt. Zum Glück hat das Engelsfeuer es ausbrennen können.»
Tessa wirkte noch immer besorgt.
«Morgen wird noch nicht mal eine Narbe zu sehen sein», beruhigte er sie.
Sie seufzte erleichtert, aber noch waren die Sorgenfalten nicht von ihrer Stirn verschwunden.
Weder Nathanaels Lächeln noch seine Worte konnten Tessa beruhigen. Er hätte sterben können. Ein unerträglicher Gedanke, der sie im Nachhinein in Angst versetzte. Wenigstens war sein Gesicht nicht mehr so blass wie vorhin. Jetzt lehnte er fast lässig am Sessel, als hätte er nur einen Kratzer abbekommen.
Sie ließ die vergangenen Minuten Revue passieren. Als der Dämon durchs Fenster gesprungen war, hatte sie sich wie damals beim Überfall gefühlt. In wilder Panik war sie unter den Schreibtisch gekrochen und hatte den Kampf beobachtet. Sie hatte um Nathanael gebangt, mehr als um ihr eigenes Leben. Als der Dämon Nathanael das Schwert aus der Hand getreten hatte, war sie vor Angst fast gestorben. Doch wie durch ein Wunder war sie über sich selbst hinausgewachsen.
Sie konnte es nicht fassen. Zum ersten Mal nach dem Überfall war es ihr gelungen, die Furcht zu überwinden. Sie fühlte sich wie befreit.
Draußen war es bereits stockdunkel. Der eiskalte Wind, der durch das Loch in der Scheibe hereinwehte, ließ sie frösteln. Vor dem zerschlagenen Fenster lagen die Splitter und ein Haufen schwarzer Asche, der durch die Zugluft hochgewirbelt wurde. Kaum zu glauben, dass es sich hierbei um die traurigen Überreste des Dämons handelte.
Nathanael rappelte sich auf.«Wir sollten schnellstens verschwinden, bevor der Gefallene noch einen weiteren Handlanger herschickt.»
«Doch nicht noch einen Dämon?» Oh, bitte nicht. Sie war zu Tode erschöpft.
«Der Gefallene hat sicher mehr geschaffen als nur einen. Lass uns ins Engelsghetto zurückkehren.»
Statt sich umzudrehen, blieb er dicht vor ihr stehen und legte seine Hand auf ihre Wange. Sein Blick war so sanft und liebevoll, dass ihr das Herz aufging.
«Das eben hat dich geschockt, nicht wahr? Aber jetzt weißt du, was auf dich zukäme. Niemand würde das wirklich wollen.»
Sie fürchtete sich vor dem, was sie gesehen hatte, vor den gefährlichen Mächten, die ihren Tod wollten. Aber heute hatte sie gelernt, dass sie es an seiner Seite schaffen konnte, diese Angst zu überwinden und über sich selbst hinauszuwachsen.
Ihr Verstand gebot ihr, die Suche aufzugeben und ins gewohnte Leben zurückzukehren. Aber dazu war es zu spät. Das Leben der erfolgreichen Bankerin Tessa McNaught existierte nur noch in ihrer Erinnerung. Es gab kein Zurück mehr. Nichts würde mehr so sein wie vorher. Doch das war ihr gleichgültig, wenn sie nur mit ihm zusammen sein durfte.
Sie schluckte bei dem Gedanken, ihn nach dem Auftrag womöglich nie mehr wiederzusehen. Wenn er es doch nur zuließe, dass sie bei ihm blieb.
«Du siehst erschöpft aus und brauchst Ruhe», sagte er leise.
Seine Augen leuchteten in einem Goldton, wie sie es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Für einen Moment glaubte sie, er würde sie küssen, aber er tat es nicht. Sie fühlte eine Kälte und Leere in sich, die ihr Herz zu Eis erstarren ließ.
Er wischte mit dem Ärmel über die Schwertklinge und schob sie anschließend in die Scheide zurück. Auch das Sichelmesser fand wieder seinen Platz in der Weste. Er wandte sich um und wollte gehen.
«Warte, Hazels Laptop», protestierte sie. «Er könnte uns nützlich sein.»
«Bist du sicher, dass du nach allem, was du heute erlebt hast, wirklich weitersuchen willst?»
«Ja, das bin ich. Ich möchte die Wahrheit herausfinden, jetzt noch mehr als vorher. Und mit dir an meiner Seite wird mir nichts geschehen. Heute habe ich gelernt, meine Angst zu überwinden. Das war ein Schritt, der mir sehr viel bedeutet.»
Und das hast du bewirkt , ergänzte sie in Gedanken.
Er drückte sie an sich und küsste sie aufs Haar.
21.
Tessa war froh, als sie Manhattan erreichten. Sie saß auf dem Beifahrersitz und ging in Gedanken immer wieder das Erlebte durch. Was hätte Ernest wohl dazu gesagt, wie tapfer sie sich geschlagen hatte? Sie war stolz auf
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