Nathanael
Kreatur sehen, was nur den Engeln und Mischwesen vorbehalten war.
Bilderfetzen flackerten vor seinen Augen, die er nur schwer identifizieren konnte.
Er erkannte das Hochhaus, von dem sich dieser Reardon gestürzt hatte. Und er sah jemanden, der den Selbstmord vom Dach des benachbarten Hauses beobachtete.
Aber es war nicht Seth, sondern der Gefallene. So sehr Nathanael sich auch bemühte, in den letzten Gedächtnisspuren des Dämons zu forschen, deutete nichts auf die Gegenwart des Nephilims hin.
Warum hatte Seth ihnen die Anwesenheit des Gefallenen verschwiegen? Welche Verbindung bestand zwischen ihnen? Wieder ein dubioses Geschäft des Nephilims?
Natürlich blieb immer das Risiko, dass er sich irrte und Seth den Gefallenen tatsächlich nicht gesehen hatte. Aber sein Bauchgefühl sagte ihm etwas anderes.
Sehts Lagerhalle befand sich in Spanish Harlem, eine Gegend, in der fast nur Latinos lebten. Als Sohn einer kubanischen Emigrantin war er hier aufgewachsen. Er hatte bereits wegen Hehlerei und kleineren Diebstählen im Gefängnis gesessen, und während seiner Haftstrafe entwickelte er sich zum Computerspezialisten, was ihm nach seiner Entlassung half, ein neues Leben aufzubauen.
Nathanael hatte Seth hier bisher nur ein einziges Mal besucht. Er parkte den Wagen auf dem Innenhof des Fabrikgeländes. Die Gebäude erinnerten nur noch von außen an ihre einstige Aufgabe – die Herstellung von Fischkonserven.
Als Nathanael anklopfen wollte, bemerkte er, dass die Tür nur angelehnt war. Er betrat die Halle, die Seth mithilfe von ausrangierten Schiffscontainern in mehrere Bereiche gegliedert hatte. In ihnen befand sich die Ware, die er übers Internet verhökerte. Alle Container waren alarmgesichert, wie die roten Lampen und Elektronikschlösser verrieten.
In einem Container saß Seth qualmend vor einem halben Dutzend Bildschirmen. Drinnen war die Luft heiß und stickig von Zigarettenrauch.
Seth hatte ihn noch nicht bemerkt. Er redete ins Mikro seines Headsets und starrte gebannt auf einen der Bildschirme.
«Hi, Seth!», rief Nathanael laut und klopfte auf die metallene Tischplatte.
Der Nephilim zuckte zusammen. Während er aufsah, klemmte er sich eine Zigarette in den Mundwinkel und nahm den Kopfhörer ab. Nathanael hätte schwören können, einen Anflug von Angst im Blick des Nephilims erkennen zu können.
«Was gibt’s? Soll ich dir ’ne Homepage einrichten?», nuschelte sein Gegenüber mit der Zigarette im Mund. Nach einem tiefen Zug drückte er sie im Ascher vor sich aus, aus dem die Stummel bereits herausquollen.
Nathanael ließ sich bewusst Zeit mit einer Antwort und musterte den Nephilim. Er bemerkte das leichte Zittern von Seths Fingern, als sie über der Tastatur schwebten. Seth war gerissen, er würde versuchen sich herauszureden.
«Nein, so was brauche ich nicht. Aber ich hab noch ein paar Fragen zu dem Selbstmord. Wegen meines Auftrags, von dem du bestimmt schon weißt.» Ganz sicher hatte Cynthia ihm davon erzählt.
Seth schien erleichtert, denn seine Züge entspannten sich. «Klar. Gratuliere. Ein gutes Geschäft, das du dir da an Land gezogen hast. Schieß los.»
Nathanael verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte sein Gegenüber. Dabei bemerkte er, wie dieser mit dem Bein wippte. Seine Anwesenheit machte Seth offensichtlich nervös.
«Bist du sicher, niemanden in der Nähe des Selbstmörders gesehen zu haben?»
Die Miene des Nephilims blieb gelassen, aber in seine Augen trat ein wachsamer Ausdruck.
«Habe ich doch schon gesagt. Es war niemand anderes da», antwortete er.
Seth log, das bewies die Erinnerung des Dämons. Nathanael beugte sich vor und stützte sich auf den Schreibtisch, der voll von CDs und staubig war. «Bist du dir ganz sicher?»
Seth lächelte schief. «Ja, klar. Glaubst du mir etwa nicht, Alter?»
Im gleichen Augenblick, als er nach einer Zigarettenschachtel griff, schnellte Nathanaels Arm nach vorn und packte ihn am Schal. Seth schrie auf und hob abwehrend die Arme. Die Zigarettenschachtel fiel ihm aus der Hand.
«Hey, was soll das? Bleib cool, Mann.»
Mit einem tiefen, zornigen Knurren zog Nathanael den Nephilim dicht an sich heran, sodass er jede Pore in seinem Gesicht erkennen konnte. Keine Regung wollte er sich entgehen lassen.
«Ich hasse es, verarscht zu werden.»
Seths Hände umklammerten Nathanaels Arm. Er versuchte sich aus dem Griff zu befreien, aber er war Nathanael körperlich unterlegen. Es zuckte um seine Mundwinkel, Angst lag in seinem
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