Nebra
sagte Ida. »Wenn auch sehr spezielle. Vielen Dank, Gaspar.« Damit wandte sie sich an einen dunkelhaarigen Mann mit Pferdeschwanz, der links neben ihr saß. »Winston?«
Winston Grimes, der Spezialist von der pathologischen Rekonstruktion, erhob sich und tippte eine Taste auf seinem Notebook. Ein Beamer projizierte einige schematische Darstellungen an die Leinwand. »Meine Untersuchungen kommen zu demselben Ergebnis«, sagte er mit englischem Akzent. Grimes war gebürtiger Amerikaner, arbeitete schon seit ein paar Jahren in der medizinischen Abteilung, war aber eigentlich Informatiker mit Abschluss in Berkeley. Eines seiner Programme ermöglichte es, fehlende Gewebeteile eines Opfers mittels Computeranimation zu rekonstruieren. Damit war es möglich, die Gesichter von Leichen im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung wiederherzustellen. Besonders hilfreich war diese neue Technik bei der Identifizierung unbekannter Opfer. Grimes hatte versucht, anhand der Bewegungszyklen, die von den verschiedenen Videokameras aufgenommen worden waren, Rückschlüsse auf das Aussehen der Täter zu gewinnen. »Zuerst möchte ich Ihnen die Vorder- und Seitenansicht der Wesen zeigen, wie wir sie aufgrund des Bildmaterials rekonstruiert haben.« Er warf in schneller Folge einige Bilder an die Wand. Sie zeigten eine bucklige, irgendwie missgestaltete Kreatur, die entfernt an einen Wolf erinnerte. Dann war ein Bewegungszyklus zu sehen, in dem dasselbe Wesen auf allen vieren lief. Jedem im Raum waren diese Bilder vertraut. »Und jetzt passen Sie bitte auf«, sagte Grimes. »Ich werde jetzt das Programm veranlassen, die Fellschichten zu entfernen.« Ida hörte, wie viele Luft holten. Auf der Wand erschien das Bild eines Menschen, der auf allen vieren lief. Er tat dies aber auf eine höchst ungewöhnliche Art. Der Bewegungszyklus erinnerte mehr an ein Tier als an ein humanoides Wesen. »Sehe ich das richtig, oder sind die Arme verlängert?« Sie deutete auf die Animation.
Grimes lächelte verhalten. »Sie haben recht, Ida. Die Arme sind tatsächlich etwas länger als bei einem normalen Menschen. Auch die Muskulatur ist deutlich ausgeprägter. Überhaupt verfügen diese Personen über eine ungewöhnliche Anatomie. Sie sind größer und kräftiger als der normale Durchschnittsbürger. Um ein Vielfaches kräftiger sogar. Ich kann nur vermuten, dass sie bereits im Kindesalter entführt wurden und unter ungewöhnlichen, um nicht zu sagen unmenschlichen Bedingungen aufgewachsen sind. Bedingungen, die wir uns nicht mal ansatzweise vorzustellen vermögen.« »Danke, Winston«, sagte Ida. »Nehmen wir den Schamanen hinzu, der ja, wie wir wissen, anatomisch betrachtet normal aussieht, sind dies also die Täter, mit denen wir es zu tun haben. Personen, die eigentlich im normalen Leben auffallen müssten. Könnte man meinen. Tatsächlich aber haben wir große Probleme, den Kreis einzugrenzen. Wir haben sämtliche mittelalterlichen und keltischen Folkloregruppen untersucht, sind jeder ortsansässigen Hexenvereinigung nachgegangen. Wir haben Faschingsvereine genauso unter die Lupe genommen wie Naturfreunde und Esoteriker - nichts. Abgesehen davon, dass in den meisten Fällen Alibis vorliegen, finden wir niemanden, der diesen anatomischen Besonderheiten ent-spricht. Die Täter scheinen anders organisiert zu sein. Wir wissen nicht, wie. Wenn sie völlig im Verborgenen lebten, wäre das wie die sprichwörtliche Suche im Heuhaufen. Sie sehen also: Wir stehen vor einem riesigen Berg von Problemen.«
Sie ordnete ihre Papiere. »Noch etwas habe ich hier vorliegen. Eine Meldung, die nicht unbedingt im Zusammenhang mit dem Fall stehen muss, die aber weitreichende Konsequenzen haben könnte. Steffen?«
Idas Assistent erhob sich und ging ebenfalls zu dem Notebook hinüber. »In den letzten vierundzwanzig Stunden sind in folgenden Gemeinden verstärkte Notrufe eingegangen«, ergriff er das Wort und projizierte eine Übersichtskarte vom Harz an die Wand. »Allrode, Altenbrak, Benneckenstein, Elend, Hasselfelde, Schierke, Sorge, Stiege, Tanne und Treseburg. Sie gehören alle zur Verwaltungsgemeinschaft Brocken-Hochharz. Wir haben Meldungen über Schlafstörungen erhalten, Paranoia, Verfolgungsängste, bis hin zu Anrufen von Menschen, die aus ihren eigenen Häusern flüchten, weil sie sich beobachtet fühlen. Einzeln betrachtet, belanglos, doch in ihrer Gesamtheit sollten wir diesem Phänomen besondere Aufmerksamkeit schenken.«
Stimmen erhoben sich, hier und da
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