Nemti
Welt versinke im Chaos, der Untergang sei nahe. Aber er könne sie retten. Ich habe den Schwachsinn nicht verstanden. Oft war er stundenlang im Keller verschwunden.«
»Was hat er da getrieben?«
»Das weiß ich nicht. Wir durften den Keller nicht betreten.«
»Sie lassen kein gutes Haar an Ihrem Exmann.«
»Es gibt auch keins.«
»Wie lange waren Sie mit ihm verheiratet?«
»Viel zu lange. Nach dem Tod unseres Sohnes klammerte er sich an Jan. Er war vernarrt in ihn. Er hat die Erziehung des Jungen übernommen. Seine Mutter und ich durften uns nicht einmischen. Taten wir es doch, gab es ein furchtbares Donnerwetter. Er hat uns auch geschlagen.«
»Sie hätten ihn wegen häuslicher Gewalt anzeigen können.«
»Ehrlich gesagt, wir haben uns nicht getraut. Glauben Sie mir, Herr Kommissar, dieser Mann hat zwei Gesichter. Nach außen spielte er stets den guten Ehemann und Schwiegervater. Doch zu Hause zeigte er sein wahres Gesicht. Er ist ein despotischer Herrscher, der keinen Widerspruch duldet. Bei ihm hat keiner was zu lachen, alle tanzen nach seiner Pfeife. Sein Wort ist Gesetz. Nur der Junge besitzt Narrenfreiheit. Er hält ihn an der langen Leine. Was passiert mit Jan und ihm?«
»Sie kommen vor Gericht.«
»Mein Gott«, jammerte Frau Rüting. »Dass ich so etwas Schreckliches noch erleben muss. Kann ich mit Jan sprechen?«
»Leider nein. Wenn Sie etwas für ihn tun wollen, besorgen Sie ihm einen Anwalt. Wir haben Jan gestern auch schon dazu geraten. Der Anwalt verschafft Ihnen auch eine Besuchserlaubnis.«
»Wo ist mein Enkel?«
»In der Justizvollzugsanstalt Koblenz.«
Sie nickte und stand auf. »Ich möchte jetzt gehen.«
»Natürlich. Herr Dux bringt Sie nach unten.«
Lukas reichte ihr den Arm. Frau Rüting tat ihm unendlich leid. Er kannte sie als herzensgute Frau, die immer ein offenes Wort für Jan und seine Freunde hatte. Dass die Familie so unter ihrem Exmann leiden musste, hätte er nie für möglich gehalten.
»Wie kommen Sie nach Hause?«, fragte Lukas, als sie an der Pforte ankamen.
»Frau Gerber, meine Freundin, wartet im Wagen. Ich werde ein paar Tage bei ihr bleiben.«
»Machen Sie’s gut.«
Als Lukas die Bürotür aufstieß, hörte er Beyer sagen, dass sich die Aussage von Frau Rüting mit der ihres Enkels deckte. Jan täte ihm in gewissem Sinne sogar leid. Die Menschen seien leichtgläubig, denn jeder sehnte sich danach, an etwas zu glauben.
Habermehl warf einen Bleistift in die Ablage auf seinem Schreibtisch und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Was reden Sie für einen Blödsinn? Wir haben die Fälle unvoreingenommen und ergebnisneutral zu bewerten. Jan Gleißner ist und bleibt ein krankes Schwein, ein Mehrfachmörder. Und Sie bringen Verständnis für ihn auf? Gleich faseln Sie auch noch von der schweren Jugend. Kommen Sie mir nicht so. Die alte Frau kann einem leidtun und ein wenig Anteilnahme erfahren.«
Beyer zog den Kopf zwischen die Schultern.
»Thema beendet«, sagte Habermehl entschlossen und griff nach einer Aktenmappe. »Herr Beyer, lassen Sie Erwin Gleißner zum Verhör bringen.«
*
Mit Weinbrecht und Lukas im Gefolge kam er vor dem Vernehmungszimmer an. »Wie gibt er sich?«, fragte Habermehl den Uniformierten, der vor der Tür Wache hielt.
»Äußerlich ruhig und gefasst. Aber in ihm dürfte es brodeln.«
»Danke. Herr Dux, Sie halten sich im Nebenzimmer auf. Herr Weinbrecht kommt mit mir.« Sie betraten den spartanisch eingerichteten Raum.
Erwin Gleißner würdigte sie keines Blickes. Kein Muskel regte sich in seinem Gesicht. Er starrte unverwandt auf den venezianischen Spiegel.
Weinbrecht stellte das Aufnahmegerät auf den Tisch und schaltete es ein.
»Sie sind also Jans Meister«, sagte Habermehl, während er sich setzte.
Gleißner legte die Arme auf den Tisch, eine erste Bewegung. »Der Maître de la sagesse , wenn ich bitten darf.«
»Meister der Weisheit. Eine hochtrabende Titulierung für einen Mörder.«
»Hol dich der Teufel. Ich bin kein Mörder.« Gleißner sprang auf. Seine Nasenflügel blähten sich, ein Ausdruck von Verachtung. Auf seinem kahl geschorenen Schädel glitzerten Schweißperlen.
»Hinsetzen.« Weinbrecht griff ihn an der Schulter und drückte ihn auf den Stuhl. Er wehrte sich. Weinbrecht packte fester zu, bis er sich endlich setzte. Hasserfüllt sah Gleißner ihn an.
»Es freut mich, dass Sie mit uns reden«, begann Habermehl das Verhör.
Gleißner drückte die Unterlippe nach vorn und schnaufte. »Nur, wenn
Weitere Kostenlose Bücher