Nemti
versuchen selbst, sie zu überwinden. Ich habe mich vor Jahren einmal mit dem Thema Phobie auseinandergesetzt.«
»Ich versuche es selbst. Was raten Sie mir?«
»Gehen Sie bewusst in den dunklen Stollen und verhalten sich so, als hätten Sie Ihre Angst bereits überwunden. Indem Sie so handeln, können Sie erleben, dass der Stollen in Wirklichkeit nicht gefährlich ist. Sie gewöhnen sich mit der Zeit an die Situation und verbinden sie in Zukunft mit neutralen Gefühlen, anstatt mit Gefahr und Angst. Sie flüchten außerdem nicht aus der Situation, sondern bleiben, bis die Angst nachlässt. Dies passiert automatisch, wenn wir lange genug in ihr bleiben. Durch die Konfrontation mit der vermeintlich gefährlichen Situation lernen Kopf und Bauch, dass diese Situation ungefährlich ist. Man kann eine Angst oder Phobie nur überwinden, wenn man sich ihr stellt.«
Zwar fühlte sich Lukas immer noch elend, doch Habermehls aufklärende Worte gaben ihm Mut. Er sah zu den Bäumen auf, die oberhalb des Mundlochs auf dem Berghang wuchsen. Der Wind spielte leise mit den Blättern. Der leicht harzige Geruch nach Wald stieg ihm in die Nase.
»Wie steht’s? Gehen wir zusammen rein?«, fragte Habermehl.
»Irgendwann muss es sein.« Lukas zeigte Entschlossenheit. »Warum nicht hier und jetzt?« Mit Mühe gelang es ihm, das panische Herzklopfen unter Kontrolle zu bringen. Er zwang sich zur Ruhe. Konzentriert versuchte er, seine schnelle Atmung zu normalisieren.
Habermehl legte ihm eine Hand auf die Schulter. Das dunkle Loch lag vor ihnen. Gemeinsam gingen sie auf den Stolleneingang zu.
»Befolgen Sie meinen Rat, und halten Sie durch. Ich bin bei Ihnen.« Habermehl stieß das aufgebrochene Gitter zur Seite und schaltete die Lampe ein.
Der unebene Boden war übersät mit Steinen. An den Wänden breiteten sich Moospolster aus, und aus den Moosbärten, die von der Firste hingen, tropfte Wasser. Erst einige Meter im Inneren wurde es trocken. Hier hielten sich die Fledermäuse auf.
Lukas stolperte hinter Habermehl her, der den Bereich vor seinen Füßen ausleuchtete und nur ab und zu die Lampe über die Stollenwände schwenkte. Im flackernden Licht bildeten die wabernden Schatten bizarre, sich ständig ändernde Formen aus. Er konzentrierte sich auf den Lichtkegel und ignorierte die ihn umgebende Dunkelheit. Es fiel ihm schwer, aber es gelang. Die negativen Fantasien, in denen er sich ausmalte, was passieren könnte, waren unangemessen und schürten nur die Angst. Außerdem war er nicht allein.
Im Licht der Handlampe erblickten sie das Opfer. Zielinski lag an der linken Seitenwand. Der Kopf ruhte auf einem großen Stein, der über und über mit Blut besudelt war. Der Anblick erschütterte Lukas. Mit schier übermenschlicher Anstrengung gelang es ihm, die Leiche anzusehen. Die klaffende Wunde am halb durchtrennten Hals fiel ihm sogleich ins Auge. Er wandte sich ab. Der Magen rebellierte. Seine Gedärme erzeugten Geräusche, als wollte sich ein Tier, das sich darin eingenistet hatte, ins Freie fressen.
Habermehl beugte sich zu der Leiche hinunter. Zielinskis Hände waren hinter dem Rücken mit einem Kabelbinder fixiert. Die rechte Wange des Toten zierte das Symbol, eindeutig die Handschrift des Schlitzers.
Auf dem unebenen Boden neben dem Kopf erblickte Lukas einen Kreis aus getrocknetem Blut. »Sehen Sie das, Herr Habermehl? Da dürfte der Mörder ein Gefäß zum Auffangen des Bluts aufgestellt haben.«
»Ich habe es bemerkt«, bestätigte der Hauptkommissar. »Geht es Ihnen gut?«
»Nein. Es ist alles so verwirrend.« In seinem Kopf herrschte dichter Nebel. Die Leiche erinnerte ihn an ein Stück Schlachtvieh, geschächtet und ausgeblutet. Der Mörder musste über Nerven wie Drahtseile verfügen. Er nahm sich Zeit für seine Beute. Es dauerte sicherlich einige Minuten, das Blut abfließen zu lassen.
Heilfroh, es überstanden zu haben, verließ Lukas eine viertel Stunde später den Stollen. Er hatte sogar in Kauf genommen, in der Dunkelheit über die allgegenwärtigen Steine zu stolpern. Es hätte ihm nichts ausgemacht. Er wollte nur raus und an die frische Luft.
»Sie haben sich hervorragend gehalten. Ich denke, Sie haben es geschafft. Aber arbeiten Sie trotzdem weiter daran.«
Lukas wankte zu der Informationstafel, dem einzigen Gegenstand in der Nähe, an dem er sich festhalten konnte. Es pochte unter seiner Schädeldecke, als würde es dem Gehirn zu eng werden. Er schloss die Augen und atmete mehrere Male tief durch.
Weitere Kostenlose Bücher