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Neonträume: Roman (German Edition)

Neonträume: Roman (German Edition)

Titel: Neonträume: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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tendieren. Ich starre die Brille an, während sie fällt und fällt, begreife, dass Petruschin sie genauso anstarrt, in der sicheren Erwartung, dass das sündhaft teure Gerät in der nächsten Sekunde auf dem Fußboden in tausend Stücke zerschellt (und mit ihr meine ungeborene Karriere als Musiker!), und zu alldem singt Louis Armstrong unbeeindruckt sein » It’s a Wonderful World«. Da schreit Jora:
    » Scheiße!«
    » Scheiße!«, schreie also auch ich, klappe wie ein Taschenmesser in der Mitte zusammen und fange in einer vollkommen unmöglichen Bewegung die Brille einen Zentimeter vor dem Aufprall ab. (Es ist tatsächlich eine Ray Ban Wraparound.)
    » Du bist ja ein echter Ninja«, sagt Jora beeindruckt.
    Genau in diesem Moment beendet Armstrong seinen Song, und die Rotblonde dreht sich zu uns um, um zu sehen, wer da so einen Stress macht. Ihr Gesicht ist der absolute Horror, ein echter Schock nach den Superbeinen…
    » Uff«, ächze ich und reiche Jora die Brille.
    » Haarscharf am Exitus vorbei«, lacht er und steckt das gute Stück wieder in seine Frisur.
    » Ich hab mich grad nach einer Braut umgesehen«, sage ich erklärend.
    » Die da drüben etwa?«
    » Nee, nee, so eine Blonde. Ist grad auf dem Lokus verschwunden«, druckse ich rum, fange dabei an, ich weiß auch nicht warum, in meiner Tasche zu kramen, fische meine Brille heraus und schiebe sie mir auf die Stirn.
    » Ah ja. Und wie geht’s so? Wie laufen die Geschäfte?«
    » Super. Läuft.«
    » Ausgezeichnet. Also dann, Alter, ich muss los, ich bin spät dran.« Jora hält mir seine Hand hin.
    » Jora, hör mal«, fange ich an, während ich seine Pfote drücke. » Ich kann dich irgendwie nie erreichen. Ich wollte dich fragen, wie du unser Demotape findest.«
    » Euer was?« Jora zieht seine Hand zurück, als hätte ich ihn gebissen.
    » Die CD , die ich dir neulich geschickt habe. Weißt du nicht mehr? Ich hab dir erklärt, wir müssten noch ein bisschen was dran machen, aber wir wollen demnächst nach Los Angeles, um…«
    » Ah, ja, ja!«, unterbricht er mich. » Jetzt fällt’s mir wieder ein. Das war so ein komischer Name, Winter in Moskau oder so was…«
    » Moskauer Schnee, Alter, Moskauer Schnee. Verstehst du die Anspielung? Der Name schlägt ein wie eine Bombe, das verspreche ich dir, die Leute werden total abdrehen.«
    » Ah ja, Schnee war das, richtig. Unter uns gesagt, euer Schnee ist ziemlicher Schnee von gestern. Du kannst auch Kinderkacke dazu sagen. Nichts für uns. Primitiv gebaut, holpriger Rhythmus, beschissener Klang, schwache Texte …«
    » Warte mal, warte mal, ich hab dir doch erklärt, das ist eine neue Musikrichtung, die ist gerade total angesagt. Sowas wie Gangsta-Trash, verstehst du?«
    » Gangsta-wer?«
    » Trash! Trash ist das! Und das wird laufen, glaub mir, das hab ich im Urin. Glamour ist out, Alter, das war mal, das ist Vergangenheit. Jetzt kommt der Dreck, das Kaputte, der Ekel, die Gosse. Alles was out ist, ist jetzt in.«
    » Moment, irgendwas bringe ich da durcheinander. Also Glamour, sagst du, ist out. Aber out ist in. Aber wenn Glamour per Definition out ist, dann heißt das doch… Ziemlich wirres Zeug, würde ich mal sagen.« Jora schiebt sich durch die Tür nach draußen. Sein Telefon klingelt. » Ich ruf dich zurück«, sagt er und will sich aus dem Staub machen.
    » Fuck…« Ich versuche ihn festzunageln. » Wieso verstehst du das nicht? Das ist doch ganz einfach! Glamour, Mann, das sind eben Klubs, teurer Sprit, Koks, aufgemotzte Bräute. Das ist nicht mehr interessant. Jetzt kommt was anderes, was echt komplett anderes. Man wäscht sich nicht mehr, nimmt Ecstasy, das sind die neunziger Jahre, verstehst du, mit Baseballschlägern und so.«
    » In den Neunzigern warst du wie alt? Du bist doch ein Produkt der Olympiade von 1980, oder täusche ich mich?«
    » Das ist doch völlig nebensächlich. Mit dem Herzen bin ich ein Kind der Neunziger. Meinst du ernsthaft, nur wenn man in den Neunzigern schon ein präseniler Penner gewesen ist, kann man ehrlich über diese Zeit schreiben? Wo sind die unrasierten Kaputtniks von der Straße, die mit superteuren Luxusschlitten durch die Gegend gondeln und diese aufgebretzelten Barbiepuppen vögeln? Das ist wie ein frischer Atemzug mitten in dieser verpesteten Megalopolis.« Fieberhaft suche ich nach Worten, um sie wie Hämmer auf sein mürbes Hirn krachen zu lassen. » Das ist wie ungeschützter Sex in einer Welt, in der Aids wütet, gefährlich wie ein Rasiermesser,

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