Neonträume: Roman (German Edition)
Saratow in die Heldenstadt Moskau, mit dreihundert Dollar in der Tasche und der Aussicht auf einen Platz im Studentenwohnheim. Vor drei Jahren begann seine erfolgreiche Karriere als Finanzfachmann bei einer Baufirma. Junggeselle. Kein übler Typ, nur ein bisschen spießig, was aber letztlich nicht weiter problematisch ist, zumal er in unserem Kreis der zahlungskräftigste ist. Außerdem fährt er auf Hip-Hop ab und ist ein göttlicher Rapper. Das ist die reine Wahrheit, sonst hätte ich ihn nicht vor einem Jahr in unser Moskauer-Schnee-Projekt geholt.
» Da sagst du was, Alter«, ächze ich und winke dem Kellner. » Mir reicht einfach die Zeit nicht. Ein Projekt jagt das nächste.«
» Ja, man versinkt geradezu in Ehrfurcht. Bist immer für deine Freunde da, und das bei deinem krachend vollen Terminkalender und deinem extrem stressigen Nachtleben«, bemerkt Anton, lässig in seinen Sessel gefläzt. » Nicht zu fassen. Und nur eine läppische Dreiviertelstunde zu spät«, fügt er mit eisigem Ton hinzu. » Wirklich, alle Achtung!« Er tut, als rede er mit dem Fenster.
Die Meute quittiert seine Bemerkung mit grölendem Gelächter.
» War das jetzt ein Witz, oder was? Machst du neuerdings auf Komiker, Alter?«
» Nee, das war bloß eine Feststellung«, gibt Anton seelenruhig zurück. » Als prinzipiell unorganisierter Mensch bin ich von Natur aus neidisch auf Leute wie dich. Du bist aufmerksam, pünktlich und zuverlässig, wann immer man dich braucht.«
Wieder grölen alle los. Endlich sieht Anton mich an.
» Ach, jetzt kapiere ich! Das ist ein kleiner Ausschnitt aus deinem neuen Drehbuch!«, rufe ich erleichtert. » Du hast endlich angefangen, ein Drehbuch zu schreiben!« Ich kneife das linke Auge zu und stoße den Zeigefinger in seine Richtung, wie es die Protagonisten in diesen idiotischen amerikanischen Sitcoms immer machen. » Ich bin zu spät gekommen und habe die Lesung des legendären Anton Panin gestört! Sorry, Alter, das wollte ich nicht!«
» Ich wusste, dass du mich verstehst.« Anton schnipst theatralisch mit den Fingern, dann schiebt er einen Krümel von seinem Revers. Er trägt ein braunes einreihiges Sakko, darunter ein weißes T-Shirt mit einem neckischen Bildchen: ein tief dekolletiertes Schneewittchen im Kreise lüstern grinsender Zwerge (wahrscheinlich Marke Eigenbau); dazu eine Cordhose im Farbton » Irish Setter« und kackbraune Loafer aus Wildleder. Abgerundet wird das Ganze von einer Plastik-Swatch-Uhr. Ein perfekt durchgestylter Bursche, keine Frage. Das ist er wahrscheinlich seinem beruflichen Status schuldig. Anton schreibt nämlich mit ein paar Typen zusammen Musik für Fernsehserien. In der Regel schreiben sie viel und verkaufen wenig. In diesem Jahr allerdings läuft ihre Musik in zwei verschiedenen Serien, und sie haben sogar ein ziemlich gutes Ranking. Er ist ein paar Jahre älter als wir, klein und dünn, mit ausgezehrtem Gesicht, riesigen grünen, permanent glühenden Augen und schulterlangen, strähnigen braunen Haaren. Weitere besondere Merkmale: feingeschliffenes Profil, Erfolg bei den Frauen, riesige Audiothek, unregelmäßiges Einkommen, Kontakt zu Internet-Outsidern. Und last but not least: Er hat immer gutes Gras im Haus und besitzt ein eigenes DJ -Mischpult. Mit einem Wort: ein kreativer Mensch. Anton macht auch die Musik für Moskauer Schnee.
» You got it, man!«, heult er und schnipst wieder mit den Fingern.
» Alles klar.« Ich winke ab. » Hört mal, Leute, ich hab heute auf der Straße eine Braut kennen gelernt! Das glaubt ihr nicht!« Zur Bekräftigung meiner Worte nehme ich die Brille ab. » Eine ganz frische, noch ganz schüchterne Studentin. Noch völlig unberührt von den Lastern der Großstadt! Ich würde sogar darauf wetten, dass sie ein waschechtes Provinzvögelchen ist. Also sowas…« Jetzt fange ich an, mit den Fingern zu schnippen, aber man lässt mich nicht ausreden.
» Aha, in dem Fall ist deine Verspätung tatsächlich als geringfügig einzustufen«, höhnt Wanja und nuckelt wieder an seiner Wasserflasche. » Eine Dreiviertelstunde– fast nichts!«
» Sagt mal, wo sind wir hier eigentlich? Bei den Anonymen Alkoholikern? Wollt ihr mich in die Pfanne hauen?«
» Um dich geht es nicht. Es geht um Wowa«, bemerkt Anton ernst. » Seine Freundin hat ihn sitzenlassen.«
» Freitag«, bestätigt Wowa, der bisher noch kein Wort gesagt hat. Wowa nimmt ziemlich selten an unseren Treffen teil, und ich weiß sehr wenig über ihn. Aber er und Anton kennen
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