Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
nun seit beinahe einer Stunde in Millie’s Karaoke. Sogar Madonna blickte mittlerweile eher ungeduldig als hungrig von ihre m Plakat.
»Wo bleibt er?«, fragte sie.
»Løken kommt«, sagte Harry. Er stand am Fenster, hatte das Rollo nach oben gezogen und sah, wie sein eigenes Spiegelbild von den Schweinwerfern der Autos durchlöchert wurde, die auf der Silom Road vorbeifuhren.
»Wann hast du mit ihm gesprochen?«
»Direkt nachdem ich m it dir gesprochen hatte. Er war zu Hause und räumte gerade die B ilder und seine Fotoausrüstung zusammen. Løken kommt schon.«
Er presste sich die Hand ballen auf die Augen. S ie waren seit dem Morgen schon rot und gereizt.
»Lass uns anfangen«, sagte er.
»Womit? Du hast überhaupt nicht gesagt, was wir hier machen sollen.«
»Wir müssen das Ganze noch einm al durchgehen«, sagte Harry. »Eine letzte Rekonstruktion.«
»O.k., aber warum?«
»Weil wir uns die ganze Zeit geirrt haben.«
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Er führte die Anspielung nicht weiter aus. Es hörte sich an als falle etwas durch ein dichtes Bl ätterdach, als das Rouleau nach unten gerauscht kam.
Løken saß auf einem Stuhl. Vor ihm auf dem Tisch lagen einige Messer. Jedes davon konnte innerhalb von S
ekunden einen
Menschen töten. Es w ar überhaupt erstaunlich, wie leicht es war, einen Menschen zu töten. So leicht. Man konnte m anchmal kaum glauben, dass die Menschen so alt wurden, wie sie wurden. Eine runde Bewegung, wi e wenn man die Kappe einer Apfelsine abschneidet, und schon war die Kehle durchtrennt.
Das Blut wurde mit einer Kraft herausgepumpt, die dafür sorgte, dass der T od schon nach Sekunden eintraf, zum indest dann, wenn die Tat von jem andem ausgeführt wurde, der sein H andwerk verstand.
Ein Stich in den Rücken be durfte genauerer P räzision. Man konnte zwanzig, dreißig Mal zust echen, ohne irgendetwas zu treffen, ziellos in M enschenfleisch herumhacken. Doch wenn man sich in der Anatom ie auskannte und wusste, wo m an eine Lunge punktieren oder ein Herz treffen konnt e, war es kein Kunststück. Wenn man von vorne zustach, war es am besten, tief anzusetzen und nach oben zu stechen, so dass m an unter die Rippen kam und die vitalen Organe erreichte. Aber von hinten war es leichter, m an musste nur etwas seitlich von der W irbelsäule zustechen.
Wie leicht war es, einen Menschen zu erschießen? Unglaublich leicht. Den ersten Menschen, den er getötet hatte, hatte er mit einem halbautomatischen Gewehr in Korea erschossen. Er hatte gezielt, abgedrückt und ei nen Menschen fallen sehen. Das war alles. Keinerlei Gewissensqualen, Albträum e oder nervöse Zusammenbrüche. Vielleicht weil Krieg gewesen war, aber er glaubte nicht, dass das die einz ige Erklärung war. Vielleicht fehlte ihm die Empathie? Ein Psychologe hatte ihm erklärt, dass 387
er pädophil sei, weil seine Seele verwundet war. Er hätte ebenso gut »schlecht« sagen können.
»O.k., hör jetzt gut zu.« Harry hatte gegenüber von Liz Platz genommen. »Am Mordtag kam der W agen des Botschafters gegen sieben Uhr zu Ove Klipras Haus, aber nicht der Botschafter saß am Steuer.«
»Nicht?«
»Nein, der Wachmann erinnert sich an keinen gelben Anzug.«
»Na und?«
»Du hast den Anzug gesehen, Li z, dagegen sieht eine Tankstelle geradezu diskret aus. Gl aubst du, m an vergisst so einen Anzug?«
Sie schüttelte langsam den Kopf und Harry fuhr fort: »Der Fahrer parkte den W agen in der Garage und klingelte a m Seiteneingang. Als Klipra die Tür öffnete, blickte er verm utlich direkt in die Mündung einer Pist ole. Der Besucher kam ins Haus, schloss die Tür und bat K lipra höflich, den Mund zu öffnen.«
»Höflich?«
»Ich versuche nur, der Geschi chte ein bis schen Farbe zu geben. O.k.?«
Liz kniff die Lippen zusamm en und fuhr sich vielsagend m it dem Zeigefinger über den Mund.
»Dann schob er den Lauf der W affe hinein, befahl Klipra, die Zähne zusammenzubeißen, und drückte ab, kalt und gnadenlos.
Die Kugel schlug durch Klipras Hinterkopf und bohrte sich in die Wand. Der Mörder wischte das Blut weg und … ja, du weißt ja, wie so etwas dann aussieht.«
Liz nickte und bedeutete ihm weiterzureden.
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»Kurz gesagt, der Betref fende entfernte alle Spuren. Zu guter Letzt holte er den Schraubenz ieher aus dem Kofferraum und hebelte damit die Kugel aus der Wand.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe Kalk am Boden im Flur gesehen und einen Ein-schusstrichter. Die Krim inaltechnik hat nachgewiesen, dass es der gleiche
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