Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
sehen, um Stärkung zu finden und Ermutigung.«
»Ich weiß nicht, ob Euch das gelungen ist, Herr. Ich habe hier nur deutlich gesehen, wie viel ich noch lernen muss.«
»Das allein wäre der Mühe wert gewesen. Aber ich möchte dir noch etwas anderes zeigen, Yonathan. Du weißt doch, wo du dich befindest, nicht wahr?«
»Das sind die Bochim, es ist die Ruhestätte der neschanischen Richter.«
»Richtig. Dort schlafen sie.« Benel deutete auf die im Halbkreis aufgestellten Sarkophage. »Fünf haben sich zur Ruhe gelegt. Einer wird es noch tun.«
»Warum ist kein siebter Sarg da?« Verstohlen wagte Yonathan einen Blick zu dem grün schillernden, leeren Fundament am Boden. Enttäuscht stellte er fest, dass Benels gleißendes Leuchten alle Konturen verwischt hatte – weder die Flöte noch die darüber befindlichen Namen ließen sich erkennen.
Als er sich wieder umwandte, glaubte er für einen Moment so etwas wie ein amüsiertes Lächeln auf Benels Lippen zu bemerken.
»Auch der siebte Richter sieht diesen Ort«, erklärte der Bote Yehwohs. »Für ihn liegt die Tafel dort, inmitten der sechs Sarkophage. Aber er wird sich hier nicht zur Ruhe legen. Durch ihn wird Neschan, wie du es heute kennst, untergehen. Wenn er seine Aufgabe mit Treue und Mut erfüllt, wird diese Welt mit neuem Namen wieder erstehen und sein Leben – wie auch das aller anderen vernunftbegabten Geschöpfe dieser Welt – wird ewig fortdauern. Wenn der siebte Richter jedoch versagt, wird Neschan in der Dunkelheit des Vergessens versinken wie die Stadt, die heute Abbadon heißt.«
»Das möge Gott verhüten!«
»Du hast bisher alles getan, damit dieser Fall nicht eintritt. Das war gut so. Und es war bestimmt im Sinne deiner Großmutter.«
»Meiner… was?«
»Deine Ohren sind besser, als du tust, Yonathan.«
»Aber ich habe keine Verwandten.«
»Jeder Mensch hat Verwandte. Vater, Mutter, Großvater und Großmutter.«
»Ich weiß, dass auch ich Eltern und Großeltern haben muss, aber ich kenne sie nicht. Navran Yaschmon hat mich irgendwann aus dem Meer gefischt wie ein herrenloses Stück Strandgut. Was davor war, daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Siehst du, das ist der zweite Grund, warum du als einziger lebender Mensch die Bochim sehen darfst: um das Grab deiner Urgroßmutter zu besuchen. Es ist der Morganit-Sarkophag dort, in dem Ascherel schläft.«
Diesmal musste Yonathan sich an der glatten Wand fest halten, um nicht umzufallen. »Meine Urgroßmutter? Aber wie…?«
»Eigentlich ist Ascherel nicht die Mutter deiner Großmutter. Man könnte es eher mit Goel und Bithya vergleichen. Du erinnerst dich doch noch an das Mädchen?«
»O ja! Die kleine Stachelwortspuckerin.«
»Sie hat ihre Eltern verloren…«
»Es war auch nicht so gemeint. Eigentlich ist Bithya in Ordnung – wenn sie sich nur nicht immer über mich lustig machen würde. Ihr wolltet also wirklich sagen, ich stamme von Ascherel ab, so wie Bithya von Goel?« Der Gedanke machte Yonathan geradezu fiebrig.
»Genau so ist es.«
»Darf ich ihren Sarkophag noch einmal sehen?«
»Schau ihn dir nur an.«
Yonathan eilte die wenigen Schritte zu dem rosafarbenen Quader hin. Er deutete auf den zweiten Schriftzug und fragte: »Dieser andere Name hier, Tarika, was hat er zu bedeuten?«
»Wie du weißt, werden die Richter nicht mit ihrem Richternamen geboren. Sie erscheinen vielmehr plötzlich, wenn sie ihre Richterschaft antreten. Bevor Ascherel ihren neuen Namen erhielt, hieß sie Tarika.«
Langsam legten sich die aufgewirbelten Gedanken in Yonathans Kopf. Als er wieder ruhig denken konnte, stand eine Frage in seinem Geist, die ihm als das größte Rätsel Neschans erschien – nicht nur Neschans, sondern auch seiner selbst. »Woher stammt Ascherel? Wo lebte sie, als sie noch Tarika hieß?«
»Das ist eine lange Geschichte, die ein andermal erzählt werden muss. Lass mich nur so viel sagen: Du hast sehr viel gemein mit deiner Urgroßmutter. Auch sie hatte ein großes Herz. Aber auch sie musste mühsam überzeugt werden, bevor sie einlenkte und sich ihrer Aufgabe widmete. Anfangs wollte sie das Amt der Richterin nicht annehmen. Sie glaubte an einen üblen Scherz.
Außerdem lebte sie in einer Welt, in der Frauen keine große Bedeutung beigemessen wurde. Ich musste ein wenig nachhelfen. Deshalb schenkte ich ihr eine Rose, schneeweiß vom Stängel bis zur Blüte, die niemals verwelkt, solange sie bei ihrem rechtmäßigen Eigentümer verbleibt. Als das Geschenk nach Monaten
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