Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
hinüber.
Baltan unterdrückte nur mühsam seine Belustigung.
Das Hofgenie bemerkte die Nöte seines Herrn und erhob sich von seinem Sedin-Sessel. Barasadan zeigte eine Miene äußerster Verärgerung. Immerhin war es ja seine Erfindung, deren Sinn und Zweck hier angezweifelt wurde. Als der kaiserliche Baumeister sich an Gimbar wandte, fiel die Erklärung deshalb auch dementsprechend kühl aus: »Weil – auch, wenn Euch das wenig veritabel erscheinen mag, junger Freund – die Kriminalität unter dem höfischen Personal, besonders in Bezug auf Eigentumsdelikte, einer alarmierenden Tendenz unterworfen ist, die jeden Respekt vor den Gütern des Kaisers negiert und ihn anstelle dessen durch eine Dominanz egoistischer Denkansätze substituiert.« Barasadan warf Zirgis einen demutsvollen Blick zu und bat: »Verzeihung, Majestät, dass ich die Situation so unmaskiert resümiert habe.«
Der Kaiser verzieh seinem wissenschaftlichen Leiter mit unsicherem Lächeln.
Gimbar dagegen blickte Barasadan an, als wäre er ein Frosch, der ihn gerade nach dem Datum der nächsten Sommersonnenwende gefragt hätte.
»Was hat er gesagt?«, flüsterte Yomi Yonathan zu.
»Er meint, dass die Leute hier am Hofe klauen wie die Raben.«
Yomi starrte Yonathan mit offenem Mund an. »Du meinst, mehr hat er nicht gesagt? Das kann ich einfach nicht glauben!«
Yonathan hatte kaum den Blick von Barasadan lösen können. Jetzt schaute er zu Yomi auf und erwiderte: »Er hat es eben noch ein wenig ausgeschmückt – vermutlich, um die Leute zu beeindrucken. Er sagte, dass es mit der Klauerei immer schlimmer wird und keiner mehr den Besitz des Kaisers achtet.«
»Aber warum spricht er dann nicht Neschanisch, wie alleÜbrigen hier?«
»Das hat er, Yo. Das hat er.«
Yomis Gesicht verriet Zweifel. »Wie kommt es überhaupt, dass du diesen aufgeblasenen Angeber so gut verstehst? Selbst der Kaiser scheint damit ziemliche Probleme zu haben.«
Diese Frage stellte sich Yonathan auch. Yomi hatte Recht. Woher kannte er all diese fremden Worte? Gelehrte verständigten sich auf diese Weise, wie in einer Geheimsprache, mit der sie sich die einfachen Menschen vom Halse halten konnten. Hing es vielleicht mit dem besonderen Wissen der Träumer zusammen? Konnte es sein, dass Yonathan aus einer Welt, aus einer Zeit stammte, in der schon Jungen so viel wussten wie auf Neschan nur die Gelehrten? Verunsichert entgegnete er: »Ich konnte mich noch an einiges erinnern.«
Yomi gab sich vorerst mit dieser Antwort zufrieden und so konnten sie sich dem weiteren Schlagabtausch zwischen Gimbar und Barasadan zuwenden.
Der ehemalige Pirat hatte sich von der verklausulierten Erklärung des Wissenschaftlers erholt und erwiderte: »Könnte man sich diesen ganzen Aufwand nicht sparen, wenn man die Diebe stattdessen ordentlich bestrafte? Verurteilt man sie dazu, durch Zwangsarbeit doppelten oder gar vierfachen Ersatz zu leisten und wirft man sie aus ihren gut bezahlten Ämtern am Hofe, dann werden sie sich solche Dinge zweimal überlegen.«
Yonathan sah, wie Baltan zufrieden lächelte und zustimmend nickte. Yomi dagegen musterte seinen falkengesichtigen Kameraden eher misstrauisch; es fiel ihm schwer zu glauben, dass Gimbars Anregung wirklich ernst gemeint war.
»Würde ich alle Beamten, die mich bestehlen, vom Hof verbannen, dann könnte ich dieses Kaiserreich bald allein regieren«, entgegnete Zirgis erheitert.
Gimbar verkniff sich eine Erwiderung, weil er befürchtete, ihr könnte es am notwendigen Respekt mangeln.
Über diesem Disput war den Beteiligten entgangen, dass sich eine weitere Person hinzugesellt hatte. Rechts hinter dem Kaiser stand höflich lächelnd ein junger Mann, etwa um die achtzehn Jahre alt. Seine Aufmerksamkeit galt Gimbar, dessen unbefangene Art ihm wohl gefallen hatte. Jetzt wandte der so unbemerkt Erschienene sich an den Kaiser. »Vater, Ihr habt nach mir rufen lassen?«
Zirgis blickte über die rechte Schulter. »Felin! Mein Sohn, musst du dich immer anschleichen wie ein Leopard?«
»Verzeiht, Vater. Ich wollte Eure Unterhaltung nicht stören.«
Während Zirgis seinem Sohn versicherte, dass er ganz gewiss nicht gestört habe, musterte Yonathan den berühmten jungen Mann.
Die beiden Söhne des Kaisers waren für alle Jungen auf Neschan ein Idealbild, dem sie nacheiferten. Wenn die Knaben mit ihren Holzschwertern in imaginäre Schlachten zogen, dann wollte ein jeder entweder Bomas oder Felin sein. Yonathans Wissen über die Kaisersöhne stammte
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