Nett ist die kleine Schwester von Scheiße
am Tag jemand: ›Ich hasse dich!‹«
Ich verstehe nicht wirklich, warum die Leute so zahlreich zu ihm kommen, aber sie kommen. Zu den Meditationsabenden, zu den Seminaren, ins Gesundheitszentrum oder einfach so zum Mittagessen im großen Esssaal im Erdgeschoss, das von der Banque Alimentaire gespendet wird. Sie alle suchen die Nähe Thich Bo Hoangs. Wie zum Beispiel eine ehemalige Grundschullehrerin, namens Brigitte, der ich im Esssaal begegne. Sie ist Ende 50, sieht aber älter aus, weil sie spindeldürr ist und ihre grauen Haare nicht färbt.
Im Buddhismus habe sie sich selbst gefunden, erzählt sie mir, während wir darauf warten, dass das Teewasser kocht. Und dann weist sie mich zurecht: »Warum trinkst du eigentlich Tee mit künstlichem Aroma, das ist doch nicht gut für deinen Körper.« Seit zwei Jahren putzt sie ehrenamtlich im Kloster, um Kontakt zum Meister zu bekommen, und seit zwei Jahren würdigt Bo sie keines Blickes. Manchmal bekommt sie Hausverbot – und sie weiß nicht, warum.
»Gehasst zu werden, macht auch Spaß.«
Thich Bo Hoang
----
Ist das eine dieser bizarren Aktionen, oder mag Bo Brigitte einfach nicht. Hat ein Zen-Meister überhaupt Vorlieben? Theoretisch müssten ihm doch alle Menschen gleich lieb sein, nur ein unerleuchtetes Geschöpf wie ich findet jemanden unsympathisch. Und welche Aktion wartet auf mich in dieser Woche? Höchstwahrscheinlich konfrontiert einen ein Lin-Chi-Meister immer genau mit dem, was einem am unangenehmsten wäre – eine ganz billige Methode im Grunde genommen. Ich versuche mich also innerlich dagegen zu wappnen, dass Bo mir vorwerfen könnte, ich wolle ihn und seine Nonnen und Mönche für mein Buch benutzen und dass ich Lin-Chi niemals verstehen werde, und mich auffordern könnte, deshalb das Kloster am besten gleich heute noch zu verlassen.
Am Nachmittag besichtige ich das Haus. Vor dem dreistöckigen, ehemaligen Verwaltungsgebäude von Michelin stehen zwei große Steinlöwen, gekauft in China, ein Zeichen von Bos kindlichem Geschmack, aber so erkennt man das Kloster wenigstens gleich von außen.
Im obersten Stock sind die Büros und die Schlafzimmer der Mönche, Nonnen und der Mönch-Anwärter untergebracht. In jedem der circa 12 Quadratmeter großen Zimmer schlafen bis zu vier Personen. Ich habe für die Woche meines Aufenthaltes ein Gästezimmer für mich allein, ein Luxus, den sonst niemand im Kloster hat.
Im ersten Stock ist die Praxis für chinesische Medizin untergebracht, hier ist alles hell und sauber. Im Erdgeschoss hat Bo den Raum, in dem früher eine Werkskantine war, zu einer Buddhahalle umbauen lassen, der einzig wirklich schöne Ort in diesem Haus. Die Halle ist mit braunem Teppich ausgelegt, am hinteren Ende thronen große, goldene Buddhastatuen, zu ihren Füßen stehen Teller mit Obst und Süßigkeiten. Der Altar ist mit Girlanden und Kerzen geschmückt. Die Rückfront des Hauses ist komplett verglast, der Blick fällt in einen winzigen Garten. Das kleine Stück Erde ist mit weißem Kies zugeschüttet worden, in einem unfachmännisch angelegten Goldfischteich schimmelt das Brackwasser vor sich hin. Gleich nebenan stehen schwarze Mülltonnen und ein Dutzend Kisten mit leeren Glasflaschen, hinter hohen, ungepflegten Hecken sieht man den Bahndamm.
Im Speisesaal sind die hinteren Tische mit Blumen und Obst dekoriert, die sind für die Meister und die Mönche. Für die Mitarbeiter und Besucher gibt es Bierbänke mit Plastiktischdecken. Gemeinschaftskühlschränke und gleich daneben vier Nähmaschinen stehen vor den Fenstern und schirmen das wenige Licht ab, das von draußen hereinfällt. Inmitten großer Plastiktüten voller Garne und Stoffe nähen die Vietnamesinnen nach Feierabend Kissen und Decken zum Verkauf. Die Einnahmen werden für Waisenkinder in Vietnam gespendet. An den Wänden hängen vietnamesische Schnitzereien, Fotos von sozialen Projekten, Bilder von anderen buddhistischen Meistern samt ihrer Lebensweisheiten, wie etwa »Zwinge niemanden etwas zu tun, was er nicht tun will«, gleich daneben ist die große Pinnwand mit den Küchendienst- und Putzplänen angebracht.
Die Küche liegt zur Hälfte in der ehemaligen Garage und zur Hälfte im Freien im Hof. Auf dem sandigen Boden stehen Zwiebel- und Reissäcke, Wannen mit Chinakohl und die Spendenkisten der Banque Alimentaire – mit Feng Shui hat das alles nichts zu tun.
Im Treppenaufgang zu meinem Zimmer im zweiten Stock stinkt es nach altem Fett, Zigarettenrauch
Weitere Kostenlose Bücher