Nett ist die kleine Schwester von Scheiße
und muffigen Turnschuhen, durch die geöffneten Fenster hört man die Autobahn: Dies hier ist definitiv keine Wellness-Erleuchtung, in diesem Kloster gibt es keinen japanischen Designer-Stil, keine Ayurveda-Küche, keine beschauliche Ruhe.
Um 19 Uhr beginnt der öffentliche Meditationsabend, die Teilnahme kostet fünf Euro. Auf dem Weg zur Buddhahalle begegne ich Ngo, dem Akupunkturmeister in seiner braunen Kutte. Da Ngo nur vietnamesisch spricht, kann sich kaum jemand mit ihm verständigen. Als er an einigen Nonnen und Mönchen im Flur vorbeigeht, faltet er die Hände und murmelt etwas vor sich hin. Alle verneigen sich und nehmen seinen vermeintlichen Segen dankbar entgegen, auch ich senke den Kopf. Eine Vietnamesin, die gerade den Flur fegt, lacht. Auf meine Frage, was Ngo denn gesagt habe, antwortet sie: »Er sagte, verneigt euch, ihr Penner!«
In der Buddhahalle sitzen bereits circa 30 Leute jeden Alters im Kreis zusammen, mehr Frauen als Männer. Jeder Neuankömmling begrüßt die Anwesenden, holt sich vom Stapel neben der Tür eine Decke und ein Meditationskissen. In der Mitte des Raumes steht eine große Vase mit vier Dutzend langstieliger Rosen. Eine junge Nonne leitet die halbstündige Meditation an. Alle schließen die Augen und versenken sich – nur ich nicht, ich beobachte in Ruhe die Meditierenden: Was suchen sie hier? Sind sie schon erleuchtet? Wirken sie interessanter und freier als die Leute, die ich sonst so kenne? Dann schweifen meine Gedanken zum Büroleiter von Bo ab, Jean-Pierre heißt er und ist zehn Jahre jünger als ich. Seine provokante Art hat mir gefallen und der interessante Kontrast zwischen seinem Äußeren und dem gebildeten und feinsinnigen Eindruck, den er auf mich gemacht hat. Von diesen tätowierten Armen würde ich gerne einmal umarmt werden, es muss sich doch ein Vorwand finden lassen, um mit ihm in den nächsten Tagen noch einmal zu sprechen. Die Nonne schlägt den Gong, die Meditation ist zu Ende, nun betritt Bo die Halle, alle stehen auf und verneigen sich. Bo verkündet das Thema des Abends: schlechtes Benehmen. Jeder soll berichten, wann er sich einmal schlecht benommen und was er dabei empfunden hat. Eine ältere Frau meldet sich: Sie wolle vorher noch etwas beitragen zu der Aufgabe von letzter Woche, nämlich glückliche Momente zu sammeln: »Mir hat die letzte Aufgabe so viel gegeben, dass ich beschlossen habe, das Glück, das ich für mich gesammelt habe, mit euch zu teilen«, erklärt sie. Die Rosen in der Mitte seien von ihr, jeder der Anwesenden möge doch am Ende des Abends eine davon mitnehmen. Ein untersetzter Mittvierziger in Motorradkleidung meldet sich: »Amélie, ich finde das einfach toll von dir! Ich fühle mich dadurch wirklich bereichert, dass du deine Gefühle mit uns teilst.« Amélie antwortet: »Ach, Gabriel, das freut mich, dass du das sagst.«
Nach diesem Gefühlsaustausch widmet sich die Runde dem Thema des heutigen Abends. Reihum erzählen nun alle von ihren Erfahrungen. Die Geschichten sind harmlos – ein mutiger Moment des Aufbegehrens gegen den Chef oder andere Autoritäten, das Eintreten gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Dafür werden die Erzähler, wie erwartet, von den anderen Teilnehmern gelobt. Aber kein Mann und keine Frau berichtet von Momenten, in denen er andere grundlos gequält, terrorisiert oder erniedrigt hat. Hier ist nichts zu holen für mich, also stecke ich meinen Stift und mein Notizbuch wieder ein.
Dann beginnt der dritte Teil des Abends, die Beratung. Eine dicke Frau im mittleren Alter meldet sich schüchtern: »Ich finde mich zu dick und habe deswegen kein Selbstbewusstsein.« Die 40 Anwesenden nicken mitfühlend, dann blicken sie erwartungsvoll zu Bo – er, der Zen-Meister, wird ihr sicher helfen, sich so anzunehmen, wie sie ist. Doch Bo sagt: »Schau dich im Spiegel an, du musst weniger essen und Sport treiben. Wer hat sonst noch eine Frage?«
Am Ende des Meditationsabends, als alle aufstehen und die Kissen zurücklegen, geht Amélie herum und verteilt ihre Rosen. Auch mir will sie eine geben, aber ich lehne ab. Verwundert meint sie: »Nimm doch, ich schenke sie dir.«
»Ich habe aber keine Vase«, erwidere ich, etwas Besseres ist mir gerade nicht eingefallen. Wieso, weiß ich nicht, aber ich möchte auf keinen Fall Amélies Freude teilen.
Einem Lin-Chi-Meister ist es übrigens ziemlich gleichgültig, wie oft ein Mann oder eine Frau in das Kloster kommt, meditiert, an den Zen-Kursen teilnimmt
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