Neuanfang
Lebensgeschichten, von Kindern, die erwachsen geworden waren, und von geliebten Menschen, die gestorben waren.
Und vielleicht – bei einigen von ihnen – Geschichten von einer neuen großen Liebe in ihrem Leben.
* * *
Ashley setzte Devin auf ihre andere Hüfte und gab ihm einen Kuss. Sie konnte kaum singen.
Die Bewohner betrachteten sie mit verzückter Aufmerksamkeit, nickten im Takt zu dem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus von „Stille Nacht“, während Tränen des Glücks über ihre Wangen strömten. In ihren Augen war ein seliges Strahlen zu erkennen, das erahnen ließ, wie das Lied sie zu lang vergangenen Weihnachtsfesten zurückversetzte, als sie jung und voller Leben gewesen waren, umgeben von Menschen, die sie liebten.
„‚Schlaf in himmlischer Ruh-hu …‘“ Connors Stimme brach, als die Töne höher wurden, doch niemand lachte. Keiner der Zuhörer schien es zu bemerken. Das hier war keine Aufführung. Es war ein Geschenk, Zeit mit diesen alten Menschen verbringen zu dürfen, Männern und Frauen mit einer Weisheit und Lebenserfahrung, die an diesem Ort fast immer unbemerkt blieben.
Ashley strich mit ihrer freien Hand über Devins flaumige Haare. Die Bewohner erinnerten sie so sehr an ihre geliebten Freunde im Sunset Hills Pflegeheim. Sie hatte immer noch Kontakt zu Lu, der Eigentümerin. Von den Bewohnern, die Ashley in Sunset Hills betreut hatte, war nur noch Helen am Leben. Sie hatte immer weniger klare Momente als früher, die schönen, liebevollen Begegnungen mit ihrer Tochter Sue waren für immer vorbei.
Als sie mit dem zweiten Vers von „Stille Nacht“ begannen, konzentrierte sich Ashley auf die Zuhörer, die vor ihr saßen. An einem Tisch etwas weiter weg saß ein Paar – eines der wenigen in diesem Raum. Sie mussten Ende achtzig oder sogar schon über neunzig sein und trugen die gleichen roten Pullover. Sie saßen Seite an Seite und hatten sich eingehakt. Als sie das Lied zur Hälfte gesungen hatten, lehnte die Frau ihren Kopf an die Schulter des Mannes.
Wie traurig, dachte Ashley. Ihre Eltern würden niemals einen solchen Moment teilen. Ganz egal, wie alt ihr Vater werden würde, er würde niemals diese ruhigen Jahre der Erinnerung in der Gesellschaft der Frau verbringen können, die er so tief geliebt hatte. Ashley spähte zu ihrem Vater und zu Elaine. Sie standen so dicht beieinander, dass man fast denken könnte, dass sie sich an den Händen hielten. Doch Ashley zweifelte daran, dass sie in ihren Gefühlen füreinander schon so weit waren.
Und selbst wenn sie es wären, könnte sie nichts daran ändern. Sie wollte das auch gar nicht. Ihr Vater hatte das Recht, sein eigenes Leben zu führen. Landon hatte ihr geholfen, zu dieser Erkenntnis zu kommen. Als sie sich vorhin am frühen Abend mit Elaine unterhalten hatte, war das ein gutes Gefühl gewesen. Die Frau war freundlich und liebevoll und darin erinnerte sie Ashley an ihre eigene Mutter. Doch sie war auch ganz anders. Sie war zurückhaltender und sprach weniger.
Doch sie verdiente Ashleys Freundschaft und Respekt, denn so hatte sie es in ihrer Familie gelernt. Jeder von ihnen vermisste ihre Mutter, besonders in dieser Jahreszeit. Doch niemand sollte für den Rest seines Lebens im Bett liegen und sich selbst bedauern und den Tod herbeiwünschen. Das Leben war da, um gelebt zu werden. Das hatte Landon ihr ebenfalls gesagt.
Jetzt stand er neben ihr und sang kräftig und wohlklingend. Ashley fühlte sich gesegnet und war zutiefst dankbar. Ihre Beziehung hätte so leicht anders ausgehen können. Das ließ sie an Irvel denken, die Bewohnerin aus Sunset Hills, die ihr am meisten bedeutet hatte. Diese Frau hatte Hank, ihren Ehemann, schon vor langer Zeit verloren, doch sie lebte jeden Tag in der Vorstellung, dass er nur gerade mal mit den Jungs zum Angeln gegangen war. Er war zwar schon gestorben, doch Irvels Liebe zu ihm und ihre Überzeugung, dass er noch da war, starb niemals.
So wollte Ashley ihr Leben auch verbringen – sie wollte Landon so lieben, wie Irvel ihren Hank geliebt hatte.
Landon schien zu spüren, dass sie über ihn nachdachte. Er beugte sich an ihr Ohr und flüsterte: „Du hast das schönste Haar, das ich je gesehen habe. Hat dir das schon mal jemand gesagt?“
„Hmmm.“ Sie lächelte unter Tränen. Ashley blickte zu einer Frau, die fast Irvel hätte sein können. Die liebe Irvel hatte an Alzheimer gelitten und sofort wieder vergessen, was sie eine Minute zuvor erst gesagt hatte. Sie war von
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