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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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dritten Mal »Prost« und brüllte: »Das ist ja großartig. Das ist wirklich wunderbar. Ich gratuliere dir von Herzen, liebe, liebe Anna. Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen. Keiner von uns hat an so was gedacht.«
    »Halt«, rief Hans, »kannst du mal einen kleinen Moment deinen großen Mund zumachen?«
    »Entschuldigung, ich benehme mich wirklich wie der Elefant im Porzellanladen. Ich hab mir nie klargemacht, dass du ja erst knapp vierzig bist. Das ist noch ein gutes Alter, um ein Baby zu bekommen.«
    »Einundvierzig«, schnaufte Anna. »Du warst im Juni zu meinem Geburtstag eingeladen. Es gab Erdbeertorte, und du hast deine Krawatte vollgekleckert. Schwanger bin ich weiß Gott nicht. Mein drittes Kind ist sieben Jahre alt und wird gerade von meinem ersten Kind ausgezankt.«
    »Meinst du, du könntest das einem begriffsstutzigen alten Mann erklären?«
    »Lena lebt jetzt bei uns. Du weißt doch, ihre Mutter ist auf der Flucht von Schlesien verhungert und ihr Vater im Krieg gefallen. Sie hat nur ihren Großvater gehabt, und der ist vor sechs Wochen gestorben. Er hat lange leiden müssen, Lena hat alles mitbekommen. Wir wissen nicht, ob sie je darüber hinwegkommen wird.«
    »Was für ein Schicksal! So viel Korn kann ich gar nicht trinken, wie ich mich schäme. Ich mache mir viel zu selten bewusst, dass andere Menschen genauso gelitten haben wie ich. Fannys Mutter wurde in Auschwitz ermordet, Lena hat ihre Mutter verhungern sehen. Ob Gott das Gerechtigkeit nennt?«
    »Wir haben dem Jugendamt das Kind fast mit Gewalt aus den Händen reißen müssen. Erst als Hans mit unserem Anwalt und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes gedroht hat, durften wir sie in Pflege nehmen.«
    »Vorerst«, stellte Hans klar. »Vorerst ist Lena bei uns in Pflege. Wahrscheinlich hältst du uns für bekloppt, aber wir bemühen uns, sie zu adoptieren. Ich wäre ohnehin nächste Woche zu dir ins Büro gekommen, damit du uns hilfst. Mein Kopf reicht nicht aus, um mit deutschen Beamten klarzukommen. Außer uns hat die Kleine doch keine Menschenseele auf der Welt. Wir wollten nicht, dass sie in ein Waisenhaus kommt. Das hat ihr Großvater nicht verdient. Er hat sich all die Jahre für das Mädchen abgerackert.«
    »Was seid ihr für Menschen! Wie soll euch Gott je für das Gute belohnen, das ihr getan habt? Und tut.«
    »Ich gebe nur zurück, was ich selbst bekommen habe«, erklärte Anna. »Hätte Vater mich nicht geholt, als meine Mutter starb, wäre ich auch ins Waisenhaus gekommen. Der Koffer war schon gepackt. Niemand in der Rothschildallee hat mich je fühlen lassen, dass ich nicht zur Familie gehörte. Ich habe Jahre gebraucht, ehe ich überhaupt begriffen habe, was meine Anwesenheit für Betsy bedeutet haben muss.«
    »Betsy ist eine besondere Frau. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie sich freuen wird, wenn ihr Haus wieder voller Kinder ist. Kinder erinnern sie an die glücklichen Zeiten mit ihrem Mann. Wir sehen uns doch übermorgen?«
    »Nein, morgen«, sagte Anna. Ihre Augen waren immer noch feucht. »Ich komme doch schon morgen. Oder glaubst du, Josepha und ich lassen es uns nehmen, Betsy bei den Vorbereitungen zu Rosch haschanah zu helfen? Es ist das erste Mal seit 1937. Ehe Erwin, Clara und Claudette aus Israel zurückkamen, wollte sie ja absolut nichts von Feiern und Feiertagen wissen. Sie sagt ja auch jetzt, sie hat mit der Frömmigkeit abgeschlossen.«
    »Aber nicht mit der Tradition«, wusste Fritz. »Mir geht es ebenso. Das ist ja die Krux. Trotz allem, was geschehen ist, verdrängen wir die Tradition nicht aus unserem Herzen. Das hat schon meine Mutter gesagt.«
    Allein für den Weg von der Thüringer Straße in die Wittelsbacher Allee, der sonst keine zehn Minuten dauerte, brauchte er eine halbe Stunde; die Flasche Bier, die ihm Hans zum Schluss als »Ammentrunk für Akademiker« aufgeschwatzt hatte, und die vier Gläser Korn beschwerten seinen Kopf noch mehr als die Beine. In der Habsburger Allee war er so erschöpft, dass er sich auf die erste intakte Bank setzen musste, die er fand. Sie stand an einem heruntergekommenen Kinderspielplatz; es gab nur einen Sandkasten, an dem die Holzumrahmung fehlte, und eine Wippe aus morschem Holz. Unter einem überquellenden Papierkorb lagen Scherben von Bierflaschen und flach getretene Streichholzschachteln.
    Ein dunkelhäutiges Mädchen mit besonders krausem Haar und in einem schwarz-rot-grünen Berchtesgadener Trachtenjäckchen, an dem drei von den fünf silbernen

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