Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
nicht mal mit jemandem tauschen?«
»Die Klempnerwitwe Seefeld hätte gekonnt, aber sie hat sich geweigert. Jeden Tag hat die miese Ziege ausschlafen können, sie war erst um acht mit dem Waschen dran. Um neun hat sie schon wieder gestunken. Leute mit schlechtem Charakter stinken ja immer. Kannst du dich noch an Frau Winkelried, unsere Putzfrau fürs Grobe, erinnern? Sie hat sich schon an die Nazis geklammert, ehe die die Klammern verteilt haben. Die hat wie ein Wiedehopf gestunken.«
»Vergiss es, Josepha. Hans sagt immer, mit der Zeit vergisst man jedes Leid. Er behauptet sogar, er kann sich nicht mal mehr an Dachau erinnern.«
»Glaubst du ihm das?«
»Nein«, antwortete Anna. »Ach, Josepha, ich kann gar nicht aufhören, dich anzuschauen. Lass dich noch mal drücken. Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass du hier bist. Du bist für mich ein Stück von früher.«
»Ein sehr altes Stück«, lachte Josepha, »viel älter als die gnädige Frau. Gegen mich ist die ein junges Reh. Wenn ich sehe, wie sie die Treppe läuft, schäme ich mich richtig. Meine Beine sind wie Kartoffelstampfer.«
Ihr Zimmer war das kleinste in der Wohnung, aber es lag, und nur das zählte, dem Kirschbaum im Hinterhof am nächsten. In warmen Sommernächten, wenn die Fenster offen standen und die Menschen noch um Mitternacht schöne Geschichten vom Glück und der Liebe erzählten, konnte man von Josephas Zimmer am besten hören, was die Nachbarn in der Martin-Luther-Straße einander anvertrauten. Sie ging ans Fenster, sah eine Blaumeise hochfliegen und zwei Tauben landen. Eine Mutter rief nach ihrem Sohn. Er hatte, wie neuerdings viele Kinder, einen Doppelnamen, hieß Hans-Peter und ließ sich ein Butterbrot aus dem zweiten Stock in den Hof werfen. In der Wohnung darunter saß ein Schneider auf einem Küchentisch, die Beine gekreuzt und den Kopf über einen dunklen Stoff gebeugt.
»Mein Gott, der war doch früher schon da«, flüsterte Josepha aufgeregt. »Wir haben uns immer zugewinkt, er und ich und sein Dackel. Guck mal, er hat noch dieselbe graue Mütze. Auch die Decke, auf der er sitzt, kommt mir bekannt vor. Verdammt bekannt.«
»Stimmt«, schwindelte Anna abermals. Und zum zweiten Mal sagte sie: »Unglaublich, Josepha, was du für ein Gedächtnis hast.«
Der Schneider war erst vor drei Wochen eingezogen, er saß auch nicht auf einer Decke, sondern auf dem blanken Tisch, er war mürrisch und grüßte keinen, und es war sehr unwahrscheinlich, dass er Josepha je zuwinken würde.
Wie Anna aber am Abend zu Hans sagte, als alle schliefen und auch die Wände keine Ohren mehr hatten, wäre es »wichtig für alte Leute, dass sie an ihr Gedächtnis glauben«.
»Wenn ich dich mal erwische, dass du mich so gemein anschwindelst, wenn ich alt bin und vertrottelt, dann verstoß ich dich und heirate Claudette. Die hat heute schon ein Gedächtnis wie ein Sieb und weiß nicht mehr, wie sie zu ihrem Kind gekommen ist.«
»Sie weiß es schon, nur redet sie nicht darüber. Das hat sie von ihrer Mutter gelernt. Es hat Jahre gedauert, bis ich mitbekam, dass Theo Berghammer, der im Haus ja jedermanns Liebling war, weil er so rührend für seine Geschwister sorgte, unsere wohlbehütete Clara verführt hat. Ich frag mich immer noch, wo.«
»Auf dem Dachboden, wo sonst? Mein Vater hat mich auch auf dem Dachboden gemacht.«
»Meiner«, sagte Anna, »in seiner Posamenterie. Betsy hat dafür gesorgt, dass ich’s beizeiten erfuhr. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass ich dumme Fragen stellte. Übrigens besteht Josepha darauf, für Kost und Logis zu zahlen. Ich habe mir den Mund fusselig geredet und gesagt, dass du gut verdienst und wir hier keine Miete zahlen, sondern nur die Nebenkosten, aber Frau Krause hat nicht mit sich handeln lassen. Wer schon bei Lebzeiten ein Stück vom Himmel abbekommt, spart seine Rente nicht für den Teufel, hat sie gesagt.«
»Na warte, die kann mich morgen kennenlernen.«
9
Als wäre nichts geschehen
27. Dezember 1949
»Verstehst du, weshalb die beiden dauernd ins Kino rennen?«, seufzte Fritz. Es war vier Tage vor Silvester, doch er war leicht verschnupft und wurde mit jedem Gongschlag der nahen Kirchturmuhr ein Stück melancholischer. Gegen die jahreszeitlich übliche Kombination aus Wehmut, Erwartung, großer Illusion und kollektivem Frohsinn hatte er sich schon in den Tagen der Heiterkeit gewehrt. »Es muss doch auch für verliebte junge Himmelsstürmer eine Welt jenseits von Herz und Schmerz, Zuckerguss und
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