Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Happy End geben«, machte der Schwarzseher weiter. »Meine Tochter bekommt doch ein völlig schiefes Bild vom Leben. Glaube einem alten Mann, das ist der direkte Weg ins Unglück.«
»Ich glaube dir kein bisschen«, widersprach Clara. »Es ist weiß Gott nicht alles Herz und Schmerz, was in den Kinos läuft. Im Augenblick schon gar nicht. Vorgestern haben sie sich Helmut Käutners Kabarettfilm ›Der Apfel ist ab‹ mit Bobby Todd angeschaut. Der hat famose Kritiken gehabt, und ich habe meine Nichte glühend beneidet. Nicht weil sie verliebt ist über beide Ohren. Das bin ich auch. Aber für Bobby Todd habe ich immer eine weiche Stelle gehabt, und für Kabarett lasse ich mich heute noch nachts um drei aus dem Bett holen. Ich träume davon, mal nach Düsseldorf ins Kom(m)ödchen zu kommen und Lore Lorentz zu sehen, die ich bisher ja nur vom Radio kenne. Oder dass Werner Finck nach Frankfurt kommt.«
»Ich habe verstanden, Clara, und senke beschämt mein Haupt. Du hast es wahrhaftig nicht verdient, dass man dich an ein verkalktes, egoistisches, menschenscheues Arbeitstier kettet. Düsseldorf mag ich dir nicht versprechen, ohne dass wir die Übernachtungssituation vorher klären. Ein Mandant von mir ist neulich in einem Bunkerhotel gelandet, und das ist nichts für den Sohn meiner Mutter. Der hat zu lange in Kellern gehockt, als er sich in Holland vor den Deutschen verstecken musste. Werner Finck, den ich großartig finde und dessen Mut ich in der Nazizeit mitbekommen habe, obliegt leider nicht meiner Planung. Dass aber 1950 für uns beide alles besser wird, das verspreche ich dir. Da gehen wir jeden Samstag ins Kino. Und kaufen uns Kaugummi.«
»Sagen wir jeden zweiten. Sonst macht sich meine Mutter Gedanken, weshalb ich mich zurück zum Backfisch entwickele.«
»Ausgerechnet du! Also jeden zweiten Samstag, und wenn wir es vor Übermut nicht aushalten können, jeden dritten Mittwoch. Bis dahin aber beschäftige ich mich weiter mit der Frage, weshalb unsere beiden Turteltauben nicht mal auf die Idee kommen, dass man sich auch von Mensch zu Mensch unterhalten kann. So wie Adam und Eva, wie Clara und Fritz.«
»Wo, wenn man nie allein sein kann? Zu zweit allein, meine ich. Früher hat man gesagt, ›Im Dunkeln ist gut munkeln‹, ich bin sicher, Verliebte sehen das immer noch so und kaufen sich Kinokarten. Nicht jeder hat es so gut wie wir. Wenn wir uns küssen und kosen und von der Zukunft träumen wollen, die wir nicht mehr haben, brauchen wir nur bis zwei Uhr nachts zu warten und uns dann auf Zehenspitzen in die Küche zu schleichen. Um diese Zeit grübelt der arme Don Juan in seinem karg möblierten Stübchen in der Eppsteiner Straße, wie er Fanny klarmachen soll, dass in Montevideo die Sonne niemals untergeht, dass die Männer dort treu sind wie Gold und ihre Frauen noch auf Händen tragen, wenn zur Silberhochzeit geladen wird.«
»Das soll er erst mal ihrem Vater klarmachen. Fanny ist doch noch ein Kind. Auch wenn sie zu früh erfahren hat, dass das Leben kein Kinderspiel ist, braucht sie mich noch. Gerade deshalb. Ich kann nicht zulassen, dass sie den erstbesten Mann heiratet, der ihr über den Weg läuft und der sie ans andere Ende der Welt verschleppt. Montevideo ist nicht Bad Vilbel. Fanny hat keine Ahnung, was es heißt, in einem fremden Land zu hocken und zur Sprachlosigkeit verurteilt zu sein. Man kann sich noch nicht mal ein Brötchen kaufen, geschweige denn eine Briefmarke. Beim Arzt bleibt dir nur die Gebärdensprache, und der Doktor schneidet dir den Blinddarm heraus, weil er nicht verstanden hat, dass du schwanger bist.«
»Das kann dir doch unmöglich passiert sein! Für dich kommt es jetzt nur darauf an, dir klarzumachen, dass deine kleine Fanny in drei Monaten neunzehn wird und dass sie heute schon wesentlich mehr vom Leben weiß, als die meisten Frauen je wissen werden. Ihr nimmt noch nicht mal ein Medizinmann im Busch den Blinddarm heraus, wenn sie schwanger ist.«
»Mir fällt immer wieder auf, dass Frauen nicht abstrakt denken können.«
»Dafür können sie logisch denken. Und was den erstbesten Mann betrifft, du lieber, besorgter Tochterpapi, bekanntlich ist in Deutschland das Angebot an jungen jüdischen Männern, die als Ehemann für Fanny infrage kommen, äußerst stark begrenzt. Oder bist du nicht ein Vater, wie mein Vater einer war? Macht es dir am Ende vielleicht gar nichts aus, wenn deine Tochter einen Nichtjuden heiratet und Weihnachten Strohsterne bastelt und mit ihren Kindern
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