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Neuigkeiten aus dem Paradies: Ansichten eines Sizilianers

Neuigkeiten aus dem Paradies: Ansichten eines Sizilianers

Titel: Neuigkeiten aus dem Paradies: Ansichten eines Sizilianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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legendären Meccano -Baukasten aus dem Jenseits brachte und ich vor Glück leichtes Fieber bekam.
    Dazu gab es ganz bestimmte Süßigkeiten, die so genannten »Totensüßigkeiten«: Marzipan, das so modelliert und bemalt war, dass es wie Obst aussah, rami di meli, Plätzchen aus Mehl und Honig, und mustazzola, die mit gekochtem Most gebacken werden, und weitere Köstlichkeiten wie viscotti regina, tetù und carcagnette. Niemals fehlte das »Zuckerpüppchen«, meist ein Trompete blasender Bersagliere oder eine knallbunte Ballerina im Tanzschritt. Vormittags gingen wir, frisch gekämmt und ordentlich gekleidet, mit der Familie auf den Friedhof, um die Verstorbenen zu besuchen und ihnen zu danken. Für uns Kinder war das ein Fest, wir liefen die Wege entlang, um unsere Freunde und Schulkameraden zu treffen: »Was hast du von den Toten gekriegt?« Nur den Tatuzzo Prestìa, der genauso alt war wie wir, fragten wir an jenem 2. November nicht, als wir ihn gefasst vor dem Grab seines im Jahr zuvor verstorbenen Vaters stehen sahen, die Hand am Lenker eines glänzenden Dreirads.
    So erwiderten wir am 2. November den Besuch, den uns die Verstorbenen in der Nacht zuvor abgestattet hatten: Das war kein Ritual, sondern eine liebe Gewohnheit. Dann kam 1943 mit den amerikanischen Soldaten auch der Christbaum, und die Toten fanden im Lauf der Jahre immer seltener den Weg in die Häuser, in denen glückliche Kinder oder Enkel krampfhaft versuchten wach zu bleiben und auf sie warteten. Schade. Wir hatten die Möglichkeit verloren, mit unseren eigenen Händen, ganz konkret, jenen Faden zu berühren, der unsere eigene Geschichte mit der Geschichte der Menschen verbindet, die uns vorausgegangen sind und die uns »geprägt« haben, wie uns die Wissenschaft in den letzten Jahren erklärt hat. Heute dagegen kann man diesen Faden nur noch durch ein Sciencefiction-Mikroskop erahnen. Und so werden wir ärmer: Montaigne schrieb, dass die Besinnung auf den Tod Besinnung auf die Freiheit ist, denn wer sterben gelernt hat, hat das Untertänigsein verlernt.

EIN LOBLIED AUF ALTE SCHMUGGLERZEITEN
    Mein catanonno (das ist bei uns der Ururgroßvater) hieß wie ich. Ende des achtzehnten Jahrhunderts (so ungefähr) war er Eigentümer und Kapitän eines Fischkutters, der Maria Immacolata, mit der er Seide schmuggelte, vornehmlich von Malta nach Sizilien. Aber er kannte sämtliche Häfen am Mittelmeer.
    Seine Frau – Mutter einer Kinderschar, welche die Frucht seiner Landaufenthalte war – lebte in Angst vor ihrem Mann und vor Gewittern. Sobald ein Unwetter aufzog, schloss sie sich in eine fensterlose Kammer ein, setzte sich, von Kopf bis Fuß in eine dicke Wolldecke gehüllt, auf einen Holzstuhl und zog die Füße hoch. Ein bisschen wie Hamm am Anfang von Becketts Endspiel. Wenn der Schmuggler das sah, fluchte er und verließ Türen knallend das Haus. Dann wurde er alt und konnte nicht mehr zur See fahren. Er musste zu Hause bleiben, und seine Frau steckte ihn mit ihrer Angst an. Am Ende standen zwei Stühle in der Kammer, und der Mann fluchte nicht mehr, sondern schickte unter seiner Decke gemeinsam mit seiner Frau Stoßgebete zum Himmel und betete Ave-Marias.
    Diese Geschichte erzählte mir meine Großmutter öfter, vielleicht in erzieherischer Absicht. Auf die Großmutter selbst hatte sie sicher so gewirkt, denn auch sie zog sich, wenn es donnerte, in einer Kammer eine Decke über den Kopf. Doch bei mir bewirkte die Geschichte das Gegenteil: Als ich fünf, sechs Jahre alt war, schlüpfte ich trotz meiner Angst vor Blitz und Donner unbemerkt hinaus in den Regen und holte mir dabei jedes Mal eine scheußliche Erkältung. Ich stellte mir vor, ich stünde aufrecht wie der Ururgroßvater auf der Kommandobrücke der randvoll mit Schmuggelseide beladenen Maria Immacolata und trotzte den wütenden Elementen.
    Dann wurde ich selbst Großvater. Ich wartete sehnsüchtig darauf, dass mein Enkel größer wurde und ich ihm dann voller Stolz erzählen konnte, dass der Ururgroßvater seines Großvaters (die Erklärung des Verwandtschaftsgrades würde mich ganz schön ins Schwitzen bringen) Schmuggler gewesen war. Ich wollte ihm auch eine andere Geschichte erzählen, nämlich wie die Mannschaften zweier Fischkutter mit Schmuggelzigaretten an Bord die Besatzung eines Patrouillenbootes retteten, das sie verfolgte und dabei in Seenot geraten war. Das klingt nach Cuore und rosa Brille. Dabei weiß ich doch, dass ich meinem Enkel keine Schmugglergeschichten mehr werde

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