Neuromancer-Trilogie
harten täglichen Einsatz stand.
Er betätigte den Joystick, und der Richter machte einen Schritt nach vorn, dann noch einen. Die Kreisel funktionierten einwandfrei; trotz des fehlenden Arms bewegte sich das Ding mit einer schrecklichen Würde und setzte die Riesenfüße entsprechend auf.
Slick grinste in Factorys Halbdunkel hinein, während der Richter auf ihn zustapfte, eins-zwei, eins-zwei. Er konnte sich an jede Entstehungsphase des Richters erinnern, wenn er wollte, und tat dies manchmal auch, weil es ihm guttat, dazu imstande zu sein.
Er konnte sich nicht an die Zeit erinnern, als er sich an nichts hatte erinnern können, aber manchmal gelang es ihm beinahe.
Das war der Grund, weshalb er den Richter gebaut hatte; er hatte etwas angestellt – nichts Schlimmes, doch man hatte ihn dabei erwischt, zweimal -, und dafür war er vor Gericht gestellt und verurteilt worden. Dann war das Urteil vollstreckt worden, und er konnte sich nicht mehr erinnern, konnte gar nichts mehr behalten, nicht mehr als fünf Minuten am Stück. Er hatte Autos geklaut. Autos von reichen Leuten. Sie sorgten dafür, dass man nicht vergaß, was man getan hatte.
Er wendete den Richter mit dem Joystick und ließ ihn durch einen Gang zwischen Reihen von Betonsockeln mit Feuchtigkeitsflecken hindurch, die einst Drehmaschinen und Punktschweißer getragen hatten, in den nächsten Raum gehen. Hoch oben im Dunkeln, im staubigen Gebälk, hingen tote Neonröhren, auf denen manchmal Vögel nisteten.
Korsakov nannten sie das. Sie machten irgendwas mit den Neuronen, damit das Kurzzeitgedächtnis nicht mehr funktionierte. Damit die Zeit im Knast verlorene Zeit war. Allerdings hatte er gehört, dass sie das jetzt nicht mehr machten, zumindest nicht bei schwerem Autodiebstahl. Für Leute, die es nicht selbst erlebt hatten, klang es nicht weiter schlimm, wie Knast, nur dass hinterher alles futsch war. Aber das stimmte nicht. Als er seine Zeit abgesessen hatte, als es vorbei war – drei Jahre aus lauter Fünf-Minuten-Abschnitten, aufgefädelt auf ein langes, verschwommenes, flimmerndes Band aus Furcht und Verwirrung, wobei man sich weniger an die einzelnen Abschnitte erinnerte als an die Übergänge … Als es vorbei war, hatte er die Hexe, den Schinder, dann die Schergen und nun schließlich den Richter bauen müssen.
Während er den Richter über die Betonrampe zu dem Raum dirigierte, in dem die anderen warteten, hörte er, wie Gentry auf Dog Solitude den Motor abstellte.
Menschen machten Gentry nervös, dachte Slick auf dem Weg zur Treppe, aber das galt auch umgekehrt. Fremde spürten die Gestat , die hinter Gentrys Augen brannte; sein Tick kam in allem, was er tat, zum Ausdruck. Slick hatte keine Ahnung, wie er bei seinen Trips ins Sprawl zurechtkam; vielleicht hatte er nur mit Leuten zu tun, die ebenso intensiv waren wie er, Einzelgänger am Rand der Drogen- und Software-Märkte. Aus Sex schien er sich überhaupt nichts zu machen, so dass Slick keine Ahnung hatte, auf was er gestanden hätte, falls doch.
Sex war Solitudes großer Nachteil, soweit es Slick betraf, vor allem im Winter. Im Sommer trieb er manchmal ein Mädchen in einem der rostigen Städtchen auf; das hatte ihn seinerzeit auch nach Atlantic City geführt und in Kids Schuld geraten lassen. In letzter Zeit redete er sich ein, die beste Lösung wäre, sich ganz auf die Arbeit zu konzentrieren, aber als er nun die vibrierende Eisentreppe zu dem Steg hinaufstieg, der zu Gentrys Wohnbereich führte, ertappte er sich bei dem Gedanken, wie Cherry Chesterfield wohl unter all den Jacken aussehen mochte. Er dachte an ihre flinken, sauberen Hände, sah daraufhin jedoch das Gesicht des Bewusstlosen auf der Trage vor sich, den Schlauch, der ihm irgendwelches Zeug ins linke Nasenloch pumpte, die hohlen Wangen, die Cherry mit einem Papiertuch abtupfte. Er zuckte zusammen.
»He, Gentry«, brüllte er in die eiserne Leere von Factory, »ich komm rauf …«
Drei Dinge an Gentry waren nicht spitz und dünn und stramm: die Augen, der Mund, das Haar. Seine Augen waren groß und hell – grau oder blau, das hing vom Licht ab. Die Lippen waren voll und beweglich. Das Haar war zu einem aufgefächerten blonden Hahnenschwanz zurückgekämmt, der wippte, wenn er ging. Er war dünn, aber nicht klapperdürr wie Bird, den sein Vorstadtfraß und seine Nervosität ausgezehrt hatten. Gentry war einfach ein schlanker Typ; stramme Muskeln, kein Gramm Fett. Er trug auch gern stramme, scharfe Sachen, schwarzes
Weitere Kostenlose Bücher