Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
meinen schlaftrunkenen Kopf.
Wir wussten alle, dass die Initiation »offiziell« nach den ersten sechs Unterrichtswochen endete, wenn die »Überlebenden« als ordentlich ins Akademieleben eing e führt erachtet wurden. Ich freute mich sehr auf den Tag, an dem unser Leben endlich einfacher werden würde. Manche von uns hassten die Schikane so sehr, dass sie regelrecht depressiv wurden oder gar in Tränen ausbr a chen, so wie Oron. Rory, Nate und Kort schienen die Demütigungen als persönliche Herausforderung zu b e trachten, und sie waren bestrebt, schneidig durch sie hi n durchzugaloppieren, als würden sie ihnen überhaupt nichts ausmachen. Als man Rory befahl, sechs hartg e kochte Eier zu essen, vertilgte er gleich ein ganzes Du t zend. An den geistlosen Aufgaben, die mir auferlegt wurden, störte mich am meisten, dass sie mich so viel wertvolle Zeit kosteten – Zeit, die mir fürs Lernen und Schlafen fehlte. Trotzdem bemühte ich mich, das Ganze mit Gleichmut zu nehmen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen, denn ich wollte nicht als Spielverderber gelten.
Doch dann veränderte ein einziger Zwischenfall meine Einstellung zur Initiation. Ich ging allein zurück nach Haus Carneston, nachdem ich wieder einmal meine obl i gatorischen Strafrunden gedreht hatte. Es wurde bereits dunkel, und der Herbstabend versprach kühl zu werden. Ich freute mich darauf, aus der Kälte herauszukommen und mich meinen Büchern widmen zu können. Als ich zwei Drittjährler auf mich zukommen sah, stöhnte ich innerlich auf. Wie es die Etikette von mir verlangte, trat ich aus dem Weg, nahm Haltung an und salutierte. Ich betete, dass sie weitergingen, aber sie blieben stehen und musterten mich lächelnd von Kopf bis Fuß. Ich blickte starr geradeaus und bemühte mich um ein möglichst au s drucksloses Gesicht.
»Hübsche Uniform«, sagte der Eine. »Eigens für Sie maßgeschneidert, Kadett?«
»Jawohl, Sir«, antwortete ich prompt.
»Die Stiefel sind auch nicht schlecht«, bemerkte der Andere. »Links u m, Kadett! Ja, hinten scheint auch alles in Ordnung zu sein. Alles in allem ein gut ausstaffierter Kadett. Kompliment, Kadett!«
»Danke, Sir.«
Der Erste sprach erneut, und mir wurde plötzlich klar, dass es sich hier um eine gut eingespielte »Nummer« handelte. »Aber wir können nicht sicher sein, dass er wirklich gut ausstaffiert ist. Ein Buch kann einen hü b schen Deckel haben, aber die Seiten drinnen haben vie l leicht Fettflecken und Eselsohren. Kadett, tragen Sie Dienstunterwäsche?«
»Jawohl, Sir, aber ich verstehe nicht recht …« Das war gelogen; ich verstand sehr wohl, und mir wurde schlagartig mulmig.
»Runter mit Ihrem Uniformrock, der Hose und den Stiefeln, Kadett!«
Mir blieb nicht anderes übrig, als zu gehorchen. Mi t ten auf dem Pfad zog ich meine Jacke aus, schnürte me i ne Stiefel auf und stieg dann aus meiner Hose. Ich faltete meine Sachen sorgfältig zusammen, legte sie ein Stück abseits auf den Boden und nahm dann Hab-Acht-Stellung ein.
»Ach, und Ihr Hemd auch, Kadett. Habe ich sein Hemd nicht auch erwähnt, Miles?«
»Doch, ich bin sicher, dass du es erwähnt hast. Eine Extra-Strafrunde für Sie, Kadett, wegen Ungehorsams. Hemd aus!«
Ich hoffte, dass ein Ausbilder vorbeikommen und i h rem Spiel ein Ende setzen würde, aber ich hatte kein Glück. Nach zwei weiteren Befehlen stand ich schlie ß lich im Unterzeug da. Trotz der abendlichen Kälte und des harten Kiesbodens, der mir in die nackten Fußsohlen piekste, versuchte ich Haltung zu bewahren und nicht zu zittern, und ich sandte ein Dankgebet zum gütigen Gott, dass meine Unterwäsche neu und frei von Löchern war. Rory wäre dieses Glück nicht vergönnt gewesen. Inzw i schen war mein Strafrundenkonto auf vier angewachsen, und sie schlugen großmütig vor, ich könne es sofort a b dienen, indem ich im Kreis um sie herumlaufe und dabei aus vollem Halse mein Hauslied singe. Wieder hatte ich keine andere Wahl, als ihren Befehlen zu folgen. Inne r lich kochte ich vor Wut, doch nach außen hin trug ich eine Miene gelassenen Gleichmuts zur Schau, während ich meine Runden um sie herum drehte. Die kalten Ki e selsteine stachen mir in die Fußsohlen, es gab keine Ste l le an meinem Körper, an der ich nicht eine Gänsehaut gehabt hätte, und am nächsten Tag hatte ich zwei Pr ü fungen, auf die ich mich dringend hätte vorbereiten mü s sen. Stattdessen marschierte ich um die beiden herum, sang in voller Lautstärke das Haus-Carneston-Lied und
Weitere Kostenlose Bücher