Nicholas Dane (German Edition)
nicht.
Eine Minute später schrillte der Pfiff.
»Hey – und wo sind meine Kippen?«, sagte jemand. Es war Davey, laut und fröhlich.
Nick beugte sich hinunter und zog die Tüte mit den Leckereien hervor, die er am Abend zuvor achtlos weggeschoben hatte. Offenbar sein Lohn.
»Hier.« Er warf Davey eine Schachtel Embassy hin und wandte sich ab.
»Is was?«, fragte Davey.
Nick drehte sich zu ihm um und wollte den Mund aufmachen. Aber was sollte er sagen? Dass er sich von Creal einen hatte runterholen lassen? Seine Gefühle waren so heftig und so vielfältig, dass er dafür keine Worte fand.
»Quatsch«, brummte er und wandte sich wieder ab.
Die Wut ist eine hinterlistige Schlange. Man weiß nie, woher sie kommt, und man weiß nie, wann sie zuschlägt. Nick war nicht wütend, weil Mr Creal ihn befummelt hatte, bis er gekommen war. Sondern weil er ihn hintergangen hatte. Creal hatte vorgegeben, sein Freund zu sein, und hatte ihm Versprechungen gemacht. Creal hatte Nick belogen, ihm gedroht und ihn geködert – bis er Nick so weit hatte, dass er ihn gewähren ließ, obwohl er es überhaupt nicht wollte. Nick verstand nicht, wie das hatte geschehen können, aber er wusste, dass es so war, und das Schlimmste daran war, dass er sich selbst dafür hasste.
Tony Creal betrieb dieses Spiel seit Jahren. Er wusste ganz genau, wie er bekam, was er wollte. So hatte er Nick zunächst in tiefste Verzweiflung geführt, ihn leiden lassen, ihm dann eine Leine zugeworfen und ihn beim Einholen dieser Leine befummelt. Creals Verhalten war so geschickt, dass Nick meinte, er wäre selbst schuld daran. Und er hatte es doch auch genossen, oder? Es hatte sich gut angefühlt. So einer war er also – eine kleine, dreckige Hure.
Aber schon als Nick mit den anderen Jungen die Treppe hinunterging, nahm sein Selbsthass eine andere Form an. Langsam, aber sicher ergriff eine fürchterliche Wut Besitz von ihm und verwandelte sich in rasenden Zorn. Aber auch der richtete sich nicht gegen den Menschen, der ihn verraten hatte. Nick meinte plötzlich zu wissen, dass Creal ihn nicht allein verführt hatte. Oliver hatte Creal geholfen, die Sache zu planen – er hatte seine Leckereien mit Nick geteilt, er war Nicks Freund geworden, so dass Mr Creal sich Nick gefügig machen konnte.
Oliver hatte es die ganze Zeit gewusst. Warum hatte er ihm nichts gesagt? Weil er mit dem lieben Tony Creal unter einer Decke steckte.
Aber das war natürlich nicht der wirkliche Grund, warum Nick auf Oliver wütend war. Der eigentliche Grund war simpler, düsterer. Nick brauchte jemanden, an dem er sich abreagieren konnte. Mr Creal war groß, Oliver war klein. Das war alles.
Den ganzen Tag über war Nick benommen vor Verzweiflung und Zorn. Ihm war Hoffnung gemacht worden, mit dem einzigen Ziel, sie ihm anschließend wieder zu nehmen. Es schien für Nick keinen anderen Ausweg zu geben, als zu dem zu werden, was Oliver geworden war – Creals kleines Geschöpf, das ihm zu Diensten war, ihm gefällig war – und wer weiß, was genau das alles hieß. Doch Nick ahnte schon, was ihm als Nächstes bevorstand.
Davey hatte natürlich die ganze Zeit über gewusst, was sich in der Wohnung abspielte. Als er jünger war, hatte er so etwas gelegentlich auch mitgemacht. Jetzt würde er das nicht mehr tun, aber er nahm es niemandem übel, wenn er sich für ein paar Zigaretten oder Süßigkeiten von einem alten Knacker an den Schwanz packen ließ. Solange man nicht zu weit ging und nicht, wie Oliver, zu einem Schoßtier wurde, warum denn nicht? Davey fand es nur eigenartig, dass Nick Creal auch noch zu mögen schien – aber was sollte er sich darüber einen Kopf machen?
Davey wusste sofort, dass etwas passiert war. Während des Unterrichts saß Nick still da, schäumte vor Wut und sprach mit niemandem. Oder er brauste sofort auf.
So etwas hatte Davey schon erlebt, er wusste, was nun kommen würde. Irgendwann würde Nick sich nicht mehr zusammenreißen können und explodieren. Es war lediglich unklar, wo und wann das geschehen und wen es treffen würde.
Beim Mittagessen packte Davey seinen Freund und schüttelte ihn. »Was ’n los mit dir? Was war gestern Abend? Wenn du so weitermachst, bist du fällig.«
Nick stieß ihn weg und warf ihm einen giftigen Blick zu. »Weißt du, was da oben abgeht?«, blaffte er.
Daveys Blick glitt zur Seite. Alle wussten, was da oben los war – nur redete keiner darüber. Dann sah er Nick an. »Mir doch egal, was du da oben machst«,
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