Nicholas' Geheimnis (German Edition)
Ruder wandte sich langsam um. Der andere Mann trat instinktiv einen Schritt zurück.
»Das ist meine Sache. Ihr tätet gut daran, euch an Stevos zu erinnern.« Der Blick aus den Augenschlitzen wanderte über die Männer an Deck. »Jeder von euch kann … ersetzt werden.« Er wählte die Formulierung mit Bedacht und sah mit Genugtuung, dass die Männer zu Boden blickten. Sie schwitzten vor Angst, er hatte sie da, wo er sie haben wollte. Mit einem unmerklichen Lächeln schaute er wieder auf die See hinaus.
Das Boot machte Fahrt. Niemand sprach über ihn oder mit ihm. Hin und wieder warf einer der Crewmänner einen Blick zu der schwarzen Gestalt am Ruder. Die Abergläubischen unter ihnen bekreuzigten sich. Wenn der Teufel an Bord war, zitterte jeder von ihnen um sein Leben. Er ignorierte sie und benahm sich, als sei er allein an Bord. Gott sei Dank …
Auf halbem Weg zwischen Lesbos und dem türkischen Festland wurde der Motor abgestellt. Die plötzliche Stille wirkte wie ein Donnerschlag. Die Männer schwiegen. Dies war keine Nacht für grobe Witze oder Würfelspiele.
Das Boot schwankte leise im Kielwasser. Der Wind frischte auf, aber alle bis auf einen schwitzten Blut und Wasser. Eine Wolke zog vor dem Mond vorbei.
Aus der Feme war das Geräusch eines Bootsmotors zu hören. Es wurde lauter, kam näher. Ein Lichtsignal blinkte dreimal hintereinander auf und erlosch dann wieder. Bald darauf schwieg auch dieser Motor. Ein zweiter Kutter legte längsseits an. Beide Schiffe verschmolzen zu einem einzigen Schatten. Die Männer warteten und beobachteten die schwarze Gestalt am Ruder.
»Der Fang war gut heute Nacht«, rief eine Stimme vom zweiten Boot herüber.
»Die Fische lassen sich im Schlaf leicht fangen«, sagte ein anderer. Irgendjemand lachte kurz auf. Zwei Männer beugten sich über die Reling und holten ein Netz voller Fische an Deck. Das Boot schwankte und lag dann wieder ruhig.
Der Mann mit der Kapuze beobachtete den Vorgang schweigend und regungslos. Beide Motoren wurden wieder angeworfen. Die Boote trennten sich. Eines fuhr nach Osten, das andere nach Westen. Der Mond schimmerte silbern. Die Brise frischte auf. Das Boot wurde wieder zu einem einzelnen schwarzen Fleck auf dem dunklen Wasser.
»Schneidet sie auf.«
Die Männer blickten erstaunt in die Augenschlitze. »Jetzt?« wagte einer von ihnen zu fragen. »Nicht erst am üblichen Ort?«
»Schneidet sie auf«, wiederholte der Maskierte. Seine Stimme schien die Nachtluft noch kälter zu machen. »Ich nehme den Inhalt mit.«
Drei Männer knieten sich neben die Fische. Schnell und geschickt arbeiteten sie mit ihren Messern. Es roch nach Blut, Schweiß und Angst. Die weißen Päckchen, die aus den Fischbäuchen herausgezogen wurden, stapelten sich auf dem Deck. Die aufgeschlitzten Kadaver wurden ins Meer zurückgeworfen. Der Fang war weder für den Markt noch für den Kochtopf bestimmt.
Der Mann mit der Maske verstaute die weißen Päckchen in seinen Taschen. Wieder wichen die Männer vor ihm zurück, als brächte ihnen schon seine so unmittelbare Nähe den Tod – oder Schlimmeres. Er musterte die Crew zufrieden und nahm dann seinen Platz am Ruder wieder ein.
Die Furcht der Männer verschaffte ihm eine grimmige Genugtuung, und die Konterbande befand sich jetzt in seinem Besitz. Er lachte. Es war ein freudloses, kaltes Lachen, das nichts mit Humor zu tun hatte. Auf der Rückfahrt fiel kein einziges Wort.
Später, wieder ein Schatten unter vielen, bewegte sich der Mann mit der Maske von der Höhle fort. Das Unternehmen war ohne Zwischenfall verlaufen, es hätte nicht besser klappen können. Niemand hatte ihm Fragen gestellt, niemand hatte gewagt, ihm zu folgen, und das, obwohl die anderen in der Überzahl gewesen waren. Dennoch bewegte er sich mit äußerster Vorsicht über den Strand. Er war schließlich kein Narr. Er hatte es nicht nur mit einer Hand voll verängstigter Fischer zu tun. Seine Arbeit war noch nicht getan.
Der Aufstieg war lang und steil, aber der Mann bewältigte ihn mühelos. Er hörte den Ruf eines Käuzchens, blieb kurz stehen und ließ den Blick über die Felsen gleiten. Von seinem Standort konnte er die weißen Mauern der Villa Theocharis sehen. Einen Moment lang überlegte er und setzte sich dann wieder in Bewegung.
Trittsicher und leichtfüßig wie eine Gämse bewegte er sich voran. Diesen Aufstieg hatte er oft genug im Dunkeln bewältigt. Vom Pfad hielt er sich fern. Pfade konnten Menschen bedeuten. Der Mann zog sich an dem
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