Nicht die Bohne!
offensichtlich, dass dieser Mann tiefe Gefühle für dich hat«, stellt er sehr ernst fest. Das ist für seine Verhältnisse ein langer Satz, und sogar das Wort »Gefühle« kommt darin vor. Tom befindet sich also im Dr.-Tom-Modus. Manchmal passiert das, und sein Hang zur Heim- und Trivial-Psychologie schlägt gnadenlos durch.
»Allerdings ist er verdammt gut darin, das zu verbergen«, knurre ich.
»Er scheint ein Selbstwertproblem zu haben«, sinniert Tom und stützt das Kinn in die rechte Hand.
»Ach, wirklich? Aber warum?!«, bricht es aus mir heraus. »Er ist patent ohne Ende, sieht fantastisch aus, hat einen guten Job und scheint das Leben grundsätzlich im Griff zu haben.«
Tom schüttelt nachdenklich den Kopf. »Es muss etwas vorgefallen sein. Etwas sehr Schlimmes. Wenn er sich von dir abwendet, geht das nicht gegen dich, Paula. Er will dich irgendwie … na ja, schützen. Sehe ich das richtig? Das meint er doch, wenn er sagt, er ist nicht gut genug für dich?«
Ich will gerade zu einer Antwort ansetzen, als Tom sehr energisch fortfährt: »Ihr habt doch schon geknutscht! Außerdem scheint er alles in allem wirklich bodenständig zu sein. Und nur ein bodenständiger Typ kommt für dich infrage, bekloppt bist du schon genug.« Tom seufzt theatralisch, und ich starre meinen Bruder abwartend an. Vielleicht kommen ja noch mehr Weisheiten aus ihm heraus? Vorschläge zur weiteren Vorgehensweise wären zum Beispiel schön.
»Und jetzt?«, frage ich schließlich vorsichtig.
»Jetzt solltest du Durchhaltevermögen zeigen. Mach ihm klar, dass er dir was bedeutet. Er kann offenbar nicht aus sich heraus. Also hilf ihm. Ich würde das nicht einfach so aufgeben, nur weil er sich nicht so verhält, wie du es dir wünschst.«
Gott, mein Bruder könnte für das Dr.-Sommer-Team der Bravo arbeiten. Ich bin ergriffen. Zumindest kurz. Dann komme ich zum Thema zurück, und zwar zu meinem Kernproblem: »Tom, ich habe dafür keine Zeit. Ich werde bald Mutter und muss mein Leben auf die Reihe kriegen«, sage ich, jetzt hart an der Grenze zur Verzweiflung.
»Kleine Schwester.« Tom beugt sich zu mir und greift nach meiner Hand. »Ein ernstes Wort zur rechten Zeit.«
»Hä?«
»Das sagt man so«, bescheidet er mir und sieht mich streng an. »Du hast dein Leben dermaßen auf der Reihe, dass es schon fast unheimlich ist. Ich kenne bestimmt hundert Menschen, vielleicht auch mehr, und die sind noch nicht mal schwanger, die nichts gebacken bekommen. Du hast einen neuen Job, der sich mit der Bohne vereinbaren lassen wird, wenn sie erst mal auf der Welt ist. Du hast einen Kindsvater, der zahlt, eine Familie, gute Freunde, bald noch eine neue Wohnung und einen großen Bruder! Du machst das alles sehr gut. Und deshalb hast du auch Zeit, um diesen Simon zu kämpfen, wenn er dir wirklich was bedeutet. Aber das ist nur meine bescheidene Meinung.«
Erschöpft lehnt er sich auf dem Sofa zurück und beobachtet mich. Ich nippe erst mal an meinem Kakao und sage gar nichts. Vielleicht hat er recht, mein Bruder. Vielleicht ist dieser große blonde Mann es wert, nicht so schnell aufzugeben.
Dieses neue Lebensmotto – Nicht aufgeben! – wird gleich am nächsten Morgen auf die Probe gestellt, denn nach einer durchgrübelten Nacht braucht es einiges an Überzeugungsarbeit, um meinen müden Körper aus dem Bett zu bewegen. Für eine weitere harte Prüfung sorgen kurz darauf meine wild gewordenen Brüste, als sie versuchen, meinen neuen BH in Größe 80 C zu sprengen. Festtapen scheidet aus, weil ich heute Abend noch zu Dr. Ganter muss und ihn mit diesem Anblick nicht überfordern will. Schließlich gewinne ich den Kampf, nur um an der Einfahrt zum Hof gleich auf die nächste Hürde zu stoßen. Es wimmelt von diversen Baufahrzeugen und wild umherlaufenden Blaumannträgern. Die Dachstuhlsanierung scheint angelaufen zu sein.
Ich quetsche den Golf in eine winzige Lücke außerhalb der Gefahrenzone und kämpfe mich durch zum Hauptgebäude. Als ich die Küche betrete, sitzt Simon mit fünf weiteren Blaumannträgern um den Tisch, und gemeinsam starren sie auf den vor sich ausgebreiteten Bauplan. Wort- und regungslos, wie sie dasitzen, erinnern sie mich entfernt an unsere Hennen in der Ei-Austreib-Phase. Die bekommen dann auch immer so einen glasigen Blick, kurz bevor das Ei aus dem Hintern fällt.
»Morgen!«, grüße ich schwungvoll und bekomme lediglich ein unartikuliertes Gebrumme als Antwort. Während die Dachstuhlsanierer weiterhin wie gebannt
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