Nicht ganz schlechte Menschen
so verblüffender war, daß Zanoussi eines Tages, am 29. April, frühmorgens sein Bündel packte, sofern von einem Bündel die Rede sein
konnte. Er schlich sich einfach davon, hinterließ keinen Gruß. Er hatte weder
Geld noch Lebensmittelvorräte gestohlen, was sein Verschwinden mit einem noch mysteriöseren
Schleier umgab. Niemand wußte sich einen Reim darauf zu machen. Die
Hotelangestellten wurden reihum befragt, ob sie Zanoussi eventuell beleidigt
oder sonstwie angegangen hätten. Keiner war sich irgendeiner Schuld bewußt.
Pierre schnalzte mehrmals nichtssagend mit der Zunge und meinte
dann, es gebe weißgott Schlimmeres. Man gab ihm soweit recht.
Am ersten Mai kniete er vor Ellie und bat erneut, denn ein Jahr sei
nun vergangen, seine Liebe aber nicht, um ihre Hand. Kannste haben, ist gewaschen ,
lautete Ellies Antwort. Die Hochzeit sollte am fünfzehnten Juni stattfinden,
führende Meteorologen sagten übereinstimmend warmes und trockenes Wetter
voraus.
Karl war die Sache nicht geheuer, er stellte den Bruder
zur Rede. Er hatte Max und Ellie beobachtet, wie sie sich immer noch küssten
und miteinander turtelten, wenn Pierre gerade nicht zugegen war.
Liebst du sie nicht mehr?
Max wollte zuerst lügen. Statt dessen hielt er mit einer
vieldeutigen Geste die Dinge in der Schwebe, bevor eine weitere Geste andeutete,
daß Karl sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern solle.
Ellie ging in den Hochzeitsvorbereitungen auf und nahm
Pierre, der darüber recht froh war, alle Arbeit ab. Sie bestimmte, in welcher
Kirche die Trauung vorgenommen werden, welches Kleid sie tragen, wie und mit
wem Pierre seinen Junggesellenabschied feiern würde und welche Erfrischungen
wann und wo auf die Gäste warteten. Sie plante das Zeremoniell minutiös durch,
überließ nichts dem Zufall.
Karl bekam mehr und mehr das Gefühl, keine Ahnung zu haben, was
eigentlich vorging. Er litt auch unter dem Wissen, dem möglicherweise
vermeintlichen Wissen, daß Mila noch lebte und seiner Hilfe bedurfte,
wenngleich er ihr beim besten Willen keine Hilfe sein konnte.
Seinen Bruder begann er zu verachten. Vielleicht war es
illusionär, das Dasein als Mission zu verstehen, mochte sein, das konnte
niemand mit Sicherheit wissen. Aber das Leben wie einen Urlaub vom Nichts zu
verbringen, kam für Karl nicht in Frage. Max zitierte Eugen Levinés berühmtes
letztes Bonmot. Und hielt seinem Bruder entgegen, daß er doch zielgerichtet
arbeite, daß er sich hier etwas aufbaue und Geld verdiene.
Wofür, fragte Karl, verdienst du dieses Geld? Für welches Ziel?
Damit wir nach Amerika abhauen können, wenn Onkel Adi zu Besuch
kommt. Ganz einfach.
Ach ,
sagte Karl, und es klang wie das Echo von einfach .
Am
1. Juni gegen Abend zog über Paris ein schwerer Sturm auf. Max und Ellie
spazierten die Champs-Élysées entlang, Max ließ sich weitschweifig über die
absurde Diskrepanz aus zwischen existenzphilosophischer Erkennntnistiefe und
der Fragilität eines Menschenlebens. Dessen Dauer reiche an die Lebenserwartung
einer nichtsnutzigen Riesenschildkröte nicht entfernt heran. Gäbe es
Gott, wäre er ein Spaßvogel oder ein Sadist.
In nur vierhundert Meter Entfernung spaltete ein Blitz einen Baum,
der gespaltene Baum erschlug einen Menschen. Max und Ellie bekamen nichts davon
mit, sie waren gerade dabei, in die nächstgelegene Metrostation zu flüchen. Am
nächsten Tag stand in den Zeitungen zu lesen, der Sturm habe zwei Todesopfer
gefordert, eine junge Frau im Bois de Vincennes und den bekannten, ebenfalls
noch relativ jungen österreichischen Schriftsteller Ödön von Horvath.
Max wünschte sich, daß er von diesem Autor je etwas gelesen hätte.
Um wieviel aufregender hätte er die Nachricht von dessen tragischem Tod
empfinden können. Und die junge Frau, die vom Blitz getroffen wurde, war
vielleicht ein großartiger Mensch, doch nicht von öffentlichem Interesse, sie
erhielt keinen Nachruf. Dieser Umstand machte Max für Stunden melancholisch. Er
schrieb der unbekannten Toten ein Gedicht. Es begann mit den Zeilen
Nichts wird man über dich je wissen,
wenn überhaupt, daß du noch jung
gewesen bist und eine Frau,
doch das genügt, es hätte jede
treffen können, die wir liebten.
Es sind zu viele Menschen hier
auf dieser Erde. Sie verbrennen,
manche lichterloh, im Blitz,
andere auf kleiner Flamme,
ohne Aufsehn, oft zu spät.
Max fand keine dritte Strophe, kein befriedigendes Ende
für sein Poem, letztlich deshalb, weil er nicht über
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