Nicht tot genug 14
verschwunden. Zwei berittene Polizisten kamen auf ihn zu, und er fragte sich flüchtig, ob sie die beiden wohl um Hilfe gebeten hatte. Er sprintete an ihnen vorbei.
Ein Stück vor ihm blieb die Frau an einem silberfarbenen BMW stehen und wühlte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel.
Japsend bremste er neben ihr ab. »Sandy!«
Sie drehte sich um und sagte etwas auf Deutsch zu ihm.
Und nun, da er sie zum ersten Mal richtig sah, wurde ihm klar, dass sie es gar nicht war.
Er spürte, wie etwas in ihm zerbrach. Sie hatte das gleiche Profil, die Ähnlichkeit war verblüffend, doch bei genauerem Hinsehen war ihr Gesicht viel breiter und unscheinbarer. Ihre Augen waren hinter einer Sonnenbrille verborgen, aber was er sah, reichte ihm. Es war nicht ihr Mund, nicht ihre seidige Haut, diese Frau war von Aknenarben gezeichnet.
»Tut mir leid, tut mir sehr leid.«
»Sind Sie Engländer?«, erkundigte sie sich freundlich. »Kann ich Ihnen helfen?«
Sie hatte den Schlüssel gefunden und öffnete die Tür. Sie beugte sich vor und warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz.
»Entschuldigung, ich – ich habe Sie verwechselt. Es war ein Versehen.«
»Ich habe gar nicht auf die Uhr gesehen! Ich bin schon viel zu spät dran.«
»Dürfte ich Sie etwas fragen? Waren Sie am Donnerstag um diese Zeit auch im Englischen Garten?«
Sie überlegte. »Kann gut sein. Bei schönem Wetter komme ich oft her. Ja, ich war ganz bestimmt hier.«
Grace dankte ihr und wandte sich ab. Seine Kleider klebten am Körper; ein Blutrinnsal sickerte in seinen rechten Turnschuh. Er war am Boden zerstört. Dann sah er Marcel Kullen auf sich zukommen. Er holte sein Handy heraus, während die Frau die Scheibe herunterließ und ihm noch einmal zunickte, und fotografierte sie rasch.
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CLEO HORCHTE ANGESTRENGT . Sie hatte eindeutig ein Geräusch gehört.
Behutsam legte sie die Leiche wieder auf den Seziertisch und rief »Hallo?«, wobei ihre Stimme durch die Maske gedämpft wurde.
Sie stand reglos da, lauschte und schaute mit einem unbehaglichen Gefühl durch die Tür in den verlassenen Flur. »Wer ist da?« Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie nahm die Maske herunter und ließ sie an den Bändern vor der Brust baumeln. »Hallo?«
Stille. Nur die Kühlanlage summte leise.
Allmählich bekam sie Angst. Hatte sie die Tür nach draußen offen gelassen? Bestimmt nicht, so etwas passierte ihr nie. Sie bemühte sich, logisch zu denken. Dachte an den Gestank, der ihr eben entgegengeschlagen war – hatte sie die Tür vielleicht doch geöffnet, um frische Luft hereinzulassen?
Nie im Leben, so dumm konnte sie nicht sein.
Aber wenn jemand im Gebäude war, warum meldete er sich dann nicht?
Im Grunde wusste sie die Antwort. Es gab immer ein paar Perverse, die von Leichenschauhäusern fasziniert waren. Es hatte schon öfter Einbrüche gegeben, doch die neue Alarmanlage, die sie vor anderthalb Jahren installiert hatten, erwies sich bislang als wirksame Abschreckung.
Ihr fiel der Monitor der Überwachungskamera ein und sie schaute hoch. Er zeigte nur ein schwarz-weißes Standbild vom asphaltierten Parkplatz und dem Blumenbeet dahinter. Das Heck ihres Wagens ragte knapp ins Bild.
Cleo hörte ein Rascheln.
Eine Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper. Einen Moment lang erstarrte sie, während ihr Kopf fieberhaft arbeitete. Auf dem Regal neben dem Schrank lag ein Telefon, aber das war zu weit weg. Sie schaute sich verzweifelt nach einer Waffe um. Flüchtig kam ihr der völlig absurde Gedanke, nach dem abgetrennten Arm zu greifen. Ihre Haut schien plötzlich zu eng für ihren Körper.
Das Rascheln kam näher. Ein Schatten glitt über die Fliesen.
Plötzlich verwandelte sich ihre Angst in Wut. Wer auch immer der Eindringling sein mochte, er hatte kein Recht, hier zu sein. Sie würde sich von einem kranken Geist, den solche Orte anturnten, nicht ins Bockshorn jagen lassen. Das hier war ihr Terrain.
Mit entschlossenen Schritten ging sie zum Schrank und holte das größte Tranchiermesser hervor. Sie umklammerte den Griff, rannte zur Tür und prallte mit einem Entsetzensschrei gegen eine große Gestalt, die ein orangefarbenes T-Shirt und hellgrüne Shorts trug. Die Gestalt griff nach Cleos Armen und hielt sie fest, worauf das Messer scheppernd zu Boden fiel.
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MARCEL KULLEN HIELT AM B ORDSTEIN und deutete über die Straße auf ein beigefarbenes Eckhaus mit einem Geschäft, dessen Schaufenster voller Bücher waren. Drinnen war es dunkel, nur die Auslage mit dem
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