Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
verstehe ich nicht«, antwortete Big Al. »Mit welchen kommst du nicht zurecht?«
»Nun, sie scheinen kodiert zu sein – lauter zufällig angeordnete Buchstaben und Ziffern. Aber vielleicht kannst du sie entschlüsseln?« Ich kam mir wie ein Dreijähriger vor, der einen Erwachsenen bitten muß, ihm die Schnürsenkel zu binden.
Er suchte die Dateinamen ab. »Du meinst diese GIFs?«
fragte er. »Das sind Graphikdateien, sonst nichts. Um sie 426
lesen zu können, braucht man bloß ein
Graphikprogramm.«
Big Al tippte einige kurze Befehle ein, fand das
Gesuchte und öffnete eine der Dateien. »Das sind
eingescannte Photos«, erklärte er mir.
Er beugte sich über den Tisch, zog den Deckel der Eiscremeschale ab, nahm sich einen Plastiklöffel und fing gierig an zu essen. Er warf auch Kelly einen Löffel zu und sagte dabei: »Halt dich lieber ran, bevor Onkel Al alles aufißt.«
Dann erschien das erste Photo auf dem Bildschirm: ein körniges Schwarzweißphoto zweier Männer auf einer breiten Treppe, die zu einem großen alten Gebäude hinaufführte. Ich erkannte die beiden Männer sofort.
Seamus Macauley und Liam Fernahan waren
»Geschäftsleute«, die als Strohmänner bei vielen
raffiniert eingefädelten Projekten als Geldbeschaffer und Spendensammler für die PIRA fungierten. Die beiden verstanden ihre Sache so ausgezeichnet, daß sie einmal sogar Mittel aus dem staatlichen Förderprogramm für den Wiederaufbau nordirischer Städte ergaunert hatten.
Zweifellos hatten sich die Finanzierungsmethoden der PIRA seit der guten alten Zeit mit scheppernden
Sammelbüchsen in Belfast, Kilburn und Boston
entscheidend verändert. Sogar so sehr, daß zu ihrer Bekämpfung schon 1988 im britischen North Ireland Office eine Arbeitsgruppe Terroristenfinanzierung gebildet worden war, der Wirtschaftsprüfer, Juristen, Steuerfachleute und Computerexperten angehörten. Euan und ich hatten viel mit ihr zusammengearbeitet.
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Danach holte Big Al mehrere Photos auf den
Bildschirm, auf denen Macauley und Fernahan zwei
andere Männer mit Handschlag begrüßten, bevor sie mit ihnen die Treppe hinuntergingen und in einen Mercedes stiegen. Einer der beiden war der verstorbene Mr.
Morgan McGear in einem eleganten Anzug, den ich
wiederzuerkennen glaubte. Ich sah rasch zu Kelly
hinüber, aber sein Gesicht sagte ihr offenbar nichts. Wer der vierte Mann war, wußte ich nicht. Im Augenblick spielte das jedoch keine allzu große Rolle.
Die Aufnahmen waren heimlich gemacht worden.
Dunkle Bildränder zeigten, daß ein Teleobjektiv mit nicht ganz korrekter Blende benützt worden war. Aber an den Autos war zu erkennen, daß die vier sich irgendwo in Europa befanden.
»Bitte weiter«, sagte ich knapp.
Sabatino wußte, daß ich etwas oder jemanden erkannt hatte; er starrte mich verlangend an und lechzte danach, eingeweiht zu werden. Er war fünf Jahre lang nicht mehr im Geschäft gewesen, aber dies war seine Chance für ein Comeback.
Ich hatte natürlich nicht vor, ihm irgend etwas zu verraten. »Bitte weiter«, wiederholte ich.
Mit der nächsten Photoserie, die er auf den Bildschirm holte, konnte ich überhaupt nichts anfangen.
Big Al betrachtete die Aufnahmen ebenfalls. Auf
seinem Gesicht war ein breites Grinsen zu sehen. »Jetzt weiß ich, wofür die Lieferscheine und Rechnungen sind.«
»Wofür denn?«
» Está es la coca, señor! Hey, diesen Kerl kenne ich.
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Der arbeitet fürs Drogenkartell.«
Auf dem Bildschirm sah ich einen wirklich sehr
eleganten Lateinamerikaner, Anfang Vierzig, aus einer Limousine steigen. Der Hintergrund zeigte, daß er sich in den USA befand. »Das ist Raoul Martinez«, erklärte Big Al. »Er ist Mitglied der kolumbianischen
Handelsdelegation.«
Die Sache wurde mit jeder Minute interessanter. Auch wenn die PIRA stets bestritten hatte, in den
Drogenhandel verwickelt zu sein, waren die dadurch erzielbaren Gewinne so hoch, daß sie sie unmöglich ignorieren konnte. Was ich auf diesem Bildschirm sah, waren praktisch vor Gericht verwertbare Beweise für ihre direkte Zusammenarbeit mit dem Drogenkartell. Aber damit war mein Problem noch immer nicht gelöst.
Big Al blätterte weiter in den Bildern. »Gleich sehen wir Raoul mit jemandem, den ich kenne, dafür garantiere ich.« Er suchte weiter. »Ah, da haben wir schon einen –
den großen bösen Sal.«
Dieser andere Kerl war etwa gleich alt, aber viel größer; er war früher vermutlich Gewichtheber gewesen und hatte sich dann mindestens
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