Nick Stone 07 - Schattenkiller
Regen nichts mehr im Tal sehen. Es schüttete so sehr, dass es sich anfühlte, als würden wir von einem Schwarm eiskalter Bienen angegriffen.
»Wir warten, bis die Soldaten weg sind - oder bis es dunkel wird.« Ich hatte einen rauen, wunden Hals. Hinzu kamen Nässe, Kälte und Hunger. Was hätte ich für einen Käsetoast und einen Becher mit ordentlichem Tee gege- ben, auf dem Sofa unter der Bettdecke, mit einer Sendung des Discovery Channel im Fernsehen.
Jerrys Kopf bewegte sich, und ich vermutete, dass er nickte.
Als die Minuten verstrichen, schien der Boden unter uns immer kälter und nasser zu werden. Ich fühlte Jerrys Körperwärme dort, wo er mich berührte, aber der Rest von mir schien allmählich zu gefrieren. Wenn er sich bewegte, um es ein wenig bequemer zu haben, fühlte ich, wie die Kälte ungeschützte Stellen angriff. Wenigstens waren wir vor dem Wind geschützt. Es ist eine psychologische Sache: Man komme irgendwo unter, und schon scheint man es ein wenig wärmer zu haben. Das ist natürlich nicht der Fall - man bildet es sich nur ein.
Der Wind heulte an uns vorbei, und der Regen hämmerte auf uns herab, prasselte auf meinen PVC-Mantel - es klang nach einem permanenten Trommelwirbel.
86
Mindestens zwei sehr kalte Stunden verstrichen, während ich dem Wind lauschte und Jerry dauernd zitterte und sich bewegte, um wieder ein Gefühl in den Gliedern zu bekommen. Ich zog ihn noch näher an mich heran, nicht nur zu seinem Nutzen, sondern auch zu meinem. »Hör mal, deine Kamera ist hin - es hat also gar keinen Sinn, dass du weiter mitkommst. Warum gehst du nicht hinunter zur SFOR?«
Jerry schüttelte den Kopf. »Himmel, nein. So dicht vor dem Ziel gebe ich nicht auf.«
»Du hast jetzt keinen Grund mehr für eine Begegnung mit Nuhanovic. Und du bist in einem beschissenen Zustand.«
»Du ebenfalls. Und ich kann ihn noch immer interviewen. Hast du daran gedacht, dass ich vielleicht auch wissen möchte, wer Rob umgebracht hat?«
»Das ist nicht die einzige Sache, über die ich mit ihm sprechen will.«
Trotz seines Elends brachte Jerry ein kurzes Lächeln zustande. »Vielleicht über Spesen?«
Ich blickte den Hügel hinunter, konnte die Schuppen aber noch immer nicht sehen. Eine Zeit lang starrte ich auf Jerrys zitternden Kopf und fragte mich, ob ich es ihm sagen sollte. Aber warum die Angewohnheit eines Lebens ändern? Schon als Kind hatte ich gelogen, wenn es darum ging, wo ich gewesen war und was ich getan hatte - nicht nur meiner Mutter, sondern allen Leuten gegenüber. Ich wollte nicht, dass irgendwer über mich Bescheid wusste. Dadurch fühlte ich mich verwundbar. Mein Stiefvater nahm es immer als Vorwand, mich zu verprügeln. Weshalb den Leuten den Strick geben, mit dem sie einen hängen konnten?
Schließlich dachte ich: Warum eigentlich nicht, solange du unerwähnt lässt, für wen du wirklich gearbeitet hast? Vielleicht lenkte ich uns von der Kälte ab, wenn ich sprach. Und so hörte Jerry alles, von meiner Ankunft in Bosnien bis zu jenem Zeitpunkt, an dem ich das Land verließ. Ich erzählte ihm von den Paveway-Jobs. Ich be- richtete von Nuhanovic bei der Zementfabrik und schilderte, wie ich die Schreie der vergewaltigten Mädchen gehört hatte.
Und ich erzählte auch von Zina.
»Sie wusste, dass ich da war, und sie kroch weiter, auf der Suche nach einer Zuflucht. Ihre Augen flehten mich um Hilfe an, aber ich konnte nichts tun. Vielleicht wäre ich in der Lage gewesen, mehr Leben zu retten als Nuhanovic. Er hatte wenigstens den Mumm einzugreifen. Ich habe nur beobachtet und dem Auftrag Vorrang gegeben .«
»Deshalb willst du zu ihm? Weil du dich schuldig fühlst?«
Er sah mich lange an, zitterte und bibberte die ganze Zeit über. »Es ist völlig sinnlos, sich mit so etwas zu belasten. Ich meine, nehme ich das Mädchen, das vom Napalm erwischt wurde, und versuche, die Flammen zu ersticken - oder mache ich ein Foto? Als wir ’94 hier waren ... damals war ich ein Junge, Mr. Idealismus, Mr. Menschlichkeit. Ich habe mir gesagt, dass ich zuerst Mensch bin und dann Fotograf.« Jerry lachte ironisch, während Regen auf sein Gesicht fiel und den Dreck von den Bartstoppeln wusch. »Es dauerte drei verdammte Kriege, bis ich meinen Fehler einsah. Ich bin der Mann, der Fotos macht, nicht mehr und nicht weniger. Die Welt braucht solche Bilder, damit die Leute aus ihrer Lethargie erwachen. Das ist mein Beitrag für die Menschlichkeit.« Er beugte sich vor. »Bei dir ist es nicht anders, Mann.
Weitere Kostenlose Bücher