Nickel: Roman (German Edition)
Nachricht lautete genauso, die dritte ebenfalls. Die letzte war Arrows Nummer plus 911, die Notrufnummer. Scheiße. 59. 5-9. K-9, die Hundestaffel. Ich sah den Wagen mit den Hundeabbildungen an der Seite vorfahren, während ich mich schon in den Wald verdrückte.
Kapitel 26
Ich rannte. Rannte, so schnell ich irgend konnte. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich lief; es war mir auch egal. Ich konnte nicht zurück, ich konnte nicht wieder in eine Pflegefamilie oder in eine Besserungsanstalt oder in den Jugendknast oder irgendwas davon. Das kam nicht infrage; ich würde mich bei der erstbesten Gelegenheit umbringen. Das hatte ich versprochen. Ein Versprechen für Nick und Eleanor. Für Annette, für die Felder hinter dem Haus, die voller Leichen waren. Wo meine eigene Leiche hatte liegen sollen. Wo Nick und Eleanor gelandet waren, war mir ein Rätsel. Sie hatten zusammenbleiben wollen; ich hatte nur weggewollt. Ich hatte das Geld genommen, all das widerliche, schmutzige Pornovideogeld, und war abgehauen. Ich hatte mir ein Leben aufgebaut, und es war so schwer, wie ich es mir gedacht hatte, aber kein Cop würde es mir wegnehmen. Nicht heute und auch sonst niemals.
Meine früheste Erinnerung, die wollt ihr nicht hören, glaubt mir. Schmerzen, das sollte reichen. Schmerzen und Scham und eine Menge anderer Dinge.
Meine erste schöne Erinnerung?
Man wäre niemals darauf gekommen, dass Dad getrauert hat, so wie es bei uns war. Erst Jahre später, kurz bevor er starb, erfuhr ich von seiner anderen Familie, seiner verschwundenen Familie. Ich wurde als Pflegekind bei ihm abgesetzt, sozusagen als Mietkauf-Kind. Ich bekam eine Führung durchs Haus und dann setzte er mich an den Küchentisch. Er war tiefschwarz, hatte einen breiten Brustkorb und einen Bauch, einen rasierten Kopf und einen bleifstiftdünnen Schnurrbart. Hände so groß wie eine kleine Pizza. Er streckte mir eine Pranke hin und ich legte meine Hand hinein. Seine riesige Pfote umschloss sie, schüttelte sie und ließ sie wieder los. Er fragte: »Und wie soll ich dich nennen?« Ich sagte es ihm.
Er nickte und antwortete: »Ich heiße Benjamin. Du kannst mich Ben nennen oder sogar Dad, wenn sich das irgendwann richtig anfühlt. Wenn du es hier aushältst, kannst du so lange bleiben, wie du willst. Wenn nicht, kannst du jederzeit gehen. Dieses Haus steht mir ebenso offen wie dir, mit einem großen Unterschied. Ich werde dich nie rauswerfen. Du kannst gehen, wenn du willst, aber solange du bleiben möchtest, bist du hier willkommen, egal was ist. Hast du Fragen, die du mir stellen möchtest?«
Ich schüttelte den Kopf – hatte ich nicht. Nicht einmal einen Monat später war er schon Dad für mich, ein echter Vater.
Kennt ihr dieses Sprichwort: Freunde kann man sich aussuchen, die Familie nicht? Was für ein Quatsch. Ich würde alles dafür tun, um jenen Augenblick zurückzubekommen, jenen wundervollen Anfang. Ein guter Grund dafür, dass ich bin, was ich bin. Die einzig guten Dinge, die mir passiert sind, bevor ich zu Nickel wurde; die einzig guten Dinge, die je passieren werden. Esgibt so vieles, was ich ihn jetzt fragen würde. Und es gibt sogar noch mehr, was ich ihm erzählen würde.
Dad, der mir zeigte, wie ich das Gewehr mit der 22er-Long-Rifle-Munition allein laden konnte. Meine kleinen Finger rutschten immer wieder vom Verschluss ab und ich war allmählich frustriert. Er nicht. Er sagte bloß immer wieder: »Fest zupacken, mein Sohn. Fest zupacken und dann mit Schwung nach hinten ziehen.« Ich war höchstens vier, aber mein genaues Alter kenne ich nicht, und wir beschlossen schon früh, dass wir einfach am selben Tag Geburtstag haben würden.
Ich versuche mir einzureden, dass mir das, was vorher war, egal ist, und manchmal glaube ich es sogar. Die ersten paar Jahre war ich bei der Frau, die mich zur Welt gebracht hat – nicht meine Mutter. Aus der Zeit gibt es keine Erinnerungen, die nicht traurig wären. Bei Dad war ich nicht einmal vier Jahre lang; ich wünschte, ich wüsste genau, wie lange. Ich wünschte, ich wüsste es auf den Tag genau.
Ich in Dads Büro; sein Name an der Tür. Ein Mädchen mit einem Problem; sogar damals wusste ich schon, dass die besten Stellen meinetwegen ausgelassen wurden.
Dad, wie er sich für mich mit einer Lehrerin auseinandersetzte, von der ich wusste, dass sie schlimme Dinge mit einigen der Schülerinnen machte. Sie tat es, aber keiner von den »leiblichen« Eltern glaubte den eigenen Kindern. Die Frau wurde gefeuert, und
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