Nickel: Roman (German Edition)
sie losschneiden?«
»Ja. Sie war an einem Stuhl festgebunden.«
»Ich glaube, sie vermuten, dass noch jemand an der Entführung beteiligt war, der dann kalte Füße bekommen und sie freigelassen hat. Wusstest du, dass sie eine Leiche im Haus gefunden haben? Das haben sie nicht in der Zeitung geschrieben, damit sie, wenn jemand sich meldet, wissen, ob er lügt oder nicht. Shelby hat erzählt, dass sie ihn vor ihren Augen getötet haben, sie haben ihr gesagt, sie würden sie auch töten, wenn sie versucht abzuhauen. Sie hat der Polizei erzählt, sie wäre wach geworden und frei gewesen und da wäre sie einfach davongelaufen.«
»Hat Augenklappe irgendwas gesagt?«
»Ich habe nur gehört, dass er der Polizei wohl gesagt hat, er hätte zwei Männer gesehen, die auf ein kleines Mädchen geschossen hätten, und das würde er in seinem Park nicht durchgehen lassen. Du weißt doch, Augenklappe sitzt immer da wie ein Wächter. Die Cops haben uns gesagt, er hätte damit gerechnet, dass jeden Tag so etwas passieren könnte. Als hätte er gewusst, dass ihr Hilfe brauchen würdet.«
Sie hatte recht, er hatte es gewusst. Nicht weswegen oder wann, aber dass wir sie irgendwann brauchen würden. Er hatte den richtigen Riecher gehabt. Glück für uns.
Vorher war Augenklappe ein Kuriosum gewesen, einfach »der Mann, der nicht winken wollte«, aber jetzt, wo ich ein wenig über ihn wusste, wollte ich alles wissen, zum Beispiel ob die Rechtsanwaltsgeschichte stimmte und ob er so etwas schon einmal getan hatte. Und warum hatte er mir nie Angst gemacht? Ich hatte nie auch nur ansatzweise ein ungutes Gefühl gehabt bei der Frage, womit er seine Zeit verbrachte. Es gab keinen Erwachsenen auf der Welt, bei dem ich nicht zumindest ein bisschen misstrauisch war, nur bei Augenklappe nicht. Ob ich so eine Art inneren Überlebenskünstlerradar hatte, mit dem ich Leute erkannte, die Ähnliches durchgemacht hatten wie ich?
»Wie geht’s Shelby?«
»Ganz gut. Sie haben … nichts mit ihr gemacht.«
»Weiß sie, warum sie sie entführt haben?«
»Die Polizei glaubt, sie wollten sie verkaufen und hätten darauf gewartet, dass man ihnen mehr Geld bietet. Der Typ, der in dem Haus wohnte, Hank, der hat seit Jahren so was gemacht. Die suchen wahrscheinlich schon ewig nach ihm. Wenn ich dich nicht angerufen hätte …«
Sie brauchte nicht weiterzusprechen. Wir wussten beide: Shelby wäre fort gewesen, vielleicht tot, oder falls nicht, wäre sie lieber tot gewesen.
»Kannst du Shelby für mich etwas fragen?«
»Was denn?«
Ich erzählte ihr von der Visitenkarte und dem manipulierten Telefonanschluss, für den man ein Passwort brauchte. Ich sagte ihr, für mich sei es noch nicht vorbei. Wie schmutzig das werden konnte, erzählte ich ihr nicht.
»Was soll ich fragen?«
»Frag sie, ob sie mithören konnte, wenn die Entführer telefoniert haben, und wenn ja, frag sie, ob die Telefonate mit einem Codewort angefangen haben. Wenn sie einen Code verwenden, den man über die Telefontastatur eingeben muss, dann war’s das, dann finden wir sie nie. Aber wenn es über Sprache funktioniert, dann kann ich vielleicht was tricksen und ein Treffen herausholen.«
»Ich frage sie. Aber das ist schwierig – es ist immer jemand in ihrer Nähe.«
»Versuch’s einfach. Wie geht’s deinen Eltern?«
»Ganz gut. Meine Mom lässt die Finger vom Alk, wenigstens für eine Weile, und mein Dad schläft jetzt auf der Couch. Er hat sich bei mir entschuldigt, aber ich bin immer noch wütend auf ihn, weil er Mom betrogen hat. Ich werde nie so werden, wenn ich groß bin. Egal was passiert.«
Ich glaubte ihr.
»Sag Shelby, ich freue mich, dass es ihr besser geht.«
»Nickel, sie sagt immer wieder, du wärst der mutigste Mensch, den sie je gesehen hat. Du hast sie gerettet. Sie sagt, du hättestnicht mal Angst gehabt, als die Typen auf euch geschossen haben. Sie kann es nicht erwarten, dir selbst zu danken.«
»Sie irrt sich. Ich hatte Todesangst.«
»Egal.« Sie umarmte mich noch einmal, nicht so lange wie beim ersten Mal. Küsste mich auf die Wange – eine Explosion. »Ich rede mit ihr und rufe dich an, wahrscheinlich heute Abend. Mach dich nicht rar – bloß weil es nicht funktioniert, heißt das nicht, dass wir keine Freunde sein können.«
»Ich weiß. Mache ich.«
Wir waren wieder an der Tankstelle. Ich sah zu, wie sie die Kette vom Fahrrad wickelte, aufstieg und davonfuhr. Ich sah ihr hinterher, ihr rotblondes Haar mit den Feuersträhnen wehte hinter ihr
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