Niemand kennt mich so wie du
den Fotos von Anne Geddes. Nach solchen Nächten war sie der Dame mit der Poliermaschine extrem dankbar. Wenn Eve um fünf Uhr aufwachte, versuchte sie, möglichst schnell wieder einzuschlafen. Ihre Bewegungsfreiheit war sehr eingeschränkt, und nachdem sie das Poster gelesen, zum Fenster hinausgesehen und sich vergewissert hatte, dass sie lang genug wach gewesen war, um nicht noch einmal in den Albtraum zurückzugleiten, dem sie eben entronnen war, rutschte sie nur ein wenig hin und her, schloss die Augen, atmete tief ein und wieder aus und schlief wieder ein bis um halb sieben. Dann wurde sie von einer Schwester geweckt, die ihre Temperatur und den Blutdruck maß und fragte, wie es ihr ging und ob sie Medikamente brauchte. Sehr selten geschah es auch, dass die Poliermaschine sie aus einem schönen Traum riss. Dann saß sie gerade auf den Klippen im Gras und unterhielt sich mit Lily, während die ihr die Haare stylte, oder sie sah Ben dabei zu, wie er in Dublin einen kleinen Club rockte. Ich bin Ben Fucking Logan, und wir sind Gulliver Stood On My Son! Und während das Publikum völlig ausflippte, hörte sie es im Hintergrund brummen. Nicht jetzt, nicht jetzt, nicht jetzt! Manchmal funktionierte es. Sie verschloss einfach die Ohren vor dem Geräusch der Poliermaschine, und der Traum ging weiter und nahm sie mit aus dem Club in den Park und zu der Mauer. Gut, jetzt möchte ich bitte aufwachen.
In Lilys Arbeitswochen sah sie beim Aufwachen ihre Freundin mit einem Folienthermometer vor sich stehen.
«Guten Morgen, Sonnenschein», sagte Lily und hielt ihr die Messfolie an die Stirn.
«Morgen, Lil.»
«Wie geht es dir?»
«Ich bin gelangweilt, frustriert und klapprig, alles tut weh und juckt fürchterlich!»
«Hat Clooney dir den Gipskratzarm besorgt?»
«Er hat im Netz einen gefunden. Angeblich lässt er sich aufgrund einer einzigartigen Kombination aus Nylon und Plastik nach Belieben verbiegen, ohne zu zerbrechen.»
«Aber er hat ihn zerbrochen?»
«Ich konnte mich nicht ein einziges Mal kratzen.»
Während Lily ihrer Arbeit nachging, unterhielten sie sich, und nur allzu schnell musste Lily weiter zum nächsten Patienten.
«So, alles in Ordnung. Ich komme später wieder, um dich zu waschen.»
Dann war sie wieder weg und Eve richtig wach. Sie las das dämliche Poster, sah zum Fenster hinaus, schaltete den Fernseher ein, schaute irgendeine Morgenshow, in der sich Menschen übertrieben über billige, schlecht genähte Klamotten freuten, und grübelte über den langen Tag nach, der vor ihr lag.
Entspannen konnte Eve erst, wenn die Krankengymnastik vorbei war. Sobald ihr das Frühstück gebracht wurde, setzte das Grauen ein, weil sie wusste, dass es danach nicht mal mehr eine Stunde dauern würde, bis Mica oder Norman, der andere Physiotherapeut, zur Tür hereinkommen und mit der vierzigminütigen Folter beginnen würde. Mica kannte zwar keine Gnade, aber wenigstens besaß sie Humor.
«Jetzt kommen Sie schon, nur noch viermal, und dann können Sie mich in den Arm boxen», sagte sie zum Beispiel.
«Noch fünf, und ich kann Sie ins Gesicht schlagen!»
«Tut mir leid, dazu ist mein Gesicht zu hübsch.»
«Das beurteile ich.»
Norman war ernsthaft und weniger streng, dafür aber gänzlich unlustig. Außerdem bestand er darauf, jedes Mal vorher auf Irisch zu zählen, bevor er sie bewegte: a h-aon, a dó, a trí .
«Sind Sie bereit? A h-aon, a dó, a trí! »
Ach, mach doch einfach!
«Okay, und los geht’s. A h-aon, a dó, a trí! »
«Das nervt!», sagte sie eines Tages. «Ist Ihnen das eigentlich klar?»
«Weiß ich», antwortete er, doch das hinderte ihn nicht daran, es wieder zu tun, als er sie später ins Bett hob. «Alles klar? A h-aon, a dó, a trí! »
«Nerviger Mistkerl!», murmelte sie.
Er reagierte nicht darauf.
Um halb zwölf jeden Tag hatte sie die Physiotherapie hinter sich. Danach kam um zwölf Uhr das Mittagessen, und sobald das Mittagessen vorbei war, schaute Eve entweder fern, an die Wand oder zum Fenster hinaus, bis gegen zwei Uhr Clooney zu Besuch kam. Er blieb meistens bis vier. Falls Gina keine Zeit oder Lily zu viel zu tun oder frei hatte, starrte sie dann wieder in den Fernseher, an die Wand oder zum Fenster hinaus. Sie las sämtliche Modemagazine, doch auch das wurde irgendwann langweilig. Außerdem waren gar nicht genug Titel auf dem Markt, um sich länger als eine Woche damit zu beschäftigen.
Meistens erkundigte sich Adam einmal täglich nach ihren Fortschritten.
«Können
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