Nimm doch einfach mich
Aber im nächsten Augenblick kam auch schon die Kellnerin zurück und stellte ihr Getränk auf den schwarzen Lacktisch.
»Dann erzählen Sie doch mal, Avery. Welche Story von mir hat Ihnen denn bisher am besten gefallen?« James blickte ihr forschend in die Augen und rutschte auf der Bank so nah an sie heran, dass sie eines der schwarzen Sitz kissen teilten. »Ich höre gern, was schöne Mädchen von meiner Arbeit halten.«
Avery lächelte etwas dümmlich und dachte krampfhaft über eine Antwort nach. Meistens übersprang sie die Artikel in der Metropolitan und konzentrierte sich hauptsächlich auf die Modestrecken. »Ach, wissen Sie, es ist wirklich wahnsinnig schwer, sich da nur für eine einzige zu entscheiden. Ich finde alles, was Sie schreiben, unglaublich gut«, flunkerte sie in der Hoffnung, er würde ihr Ausweichmanöver nicht durchschauen. Sie sah sich in der Bar um. Obwohl es ein ganz gewöhnlicher Mittwochabend war, saß ein paar Tische weiter die berühmte TV-Moderatorin Barbara Walters und unterhielt sich angeregt mit einem weißhaarigen Mann, während in einer anderen Ecke eine Gruppe langhaariger Models dicht gedrängt zusammensaß und wild durcheinanderplauderte.
Als James grinste, lächelte Avery verunsichert zurück, klimperte mit den schwarz getuschten Wimpern und hoffte, er würde sie nicht für komplett hohl halten.
»Welchen Ihrer Artikel mögen Sie denn am liebsten?«, fragte sie ihn und schämte sich für die Frage, noch bevor sie sie vollständig ausgesprochen hatte. Irgendwie hörte es sich so an, als hätte sie ihn nach seinem Lieblingstier gefragt. Sie griff nach ihrem Wodka-Gimlet und trank ihn zur Hälfte aus, um ihm nicht noch mehr peinliche Fragen zu stellen.
Welche denn? Zum Beispiel die nach seinem Alter?
»Ah … die gute alte Journalistentaktik, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.« James lächelte.
»Ganz genau«, entgegnete Avery mit nervösem Kichern. Bis jetzt verlief der Abend nicht so glatt, wie sie gehofft hatte. Glücklicherweise wurde der Raum nur von kleinen Tiffany-Lampen beleuchtet, die diskret auf Sideboards verteilt waren, sodass James nicht sehen konnte, dass sich auf ihrem Dekolleté bereits hektische Flecken ausbreiteten. Dieses sogenannte Arbeitstreffen fühlte sich verdächtig nach einem romantischen Date an. Nicht dass sie etwas dagegen gehabt hätte … Ihre Schwester war eben nicht die Einzige, die sich einen Europäer angeln konnte.
Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zur Angel-Weltmeisterschaft in der Carlyle'schen Disziplin!
»Na schön, dann sage ich Ihnen, welches meine Lieblingsstorys sind. Am liebsten sind mir die, in denen wir den goldenen Vorhang von Manhattan lüften. Ich bringe gern die innersten Beweggründe und Sehnsüchte der Leute ans Licht«, sagte James. »Ihr New Yorkerinnen seid schon sehr früh sehr reif!« Sein Blick wanderte zu Averys fast leerem Wodkaglas. Ooops! Sie musste sich ein bisschen zügeln. Sie war schließlich beruflich hier.
»Erzählen Sie mir mehr über sich …« James lehnte sich gegen eines der steifen schwarzen Lederkissen.
»Trinken Sie denn gar nichts?«, konnte Avery es sich nicht verkneifen zu fragen.
»Ich trinke nie während der Arbeit.« James zuckte die Achseln. »Ist eine lange Geschichte. Aber Sie sind Praktikantin, also tun Sie sich keinen Zwang an. Wissen Sie, wenn man noch jung ist, kann Alkohol ganz hilfreich sein. Er wird erst dann zum Problem, wenn man die dreißig überschritten hat«, erklärte James wehmütig. Avery fragte sich, wie alt er wohl war. Auf sie wirkte er jünger als dreißig.
»Sie wollen etwas über mich erfahren? Okay. Ursprünglich stamme ich aus Nantucket«, beantworte Avery seine Frage. »Aber meine Großmutter, Avery Carlyle die Erste, lebte ihr Leben lang in New York. Als sie starb, zog meine Mutter mit uns hierher, um den Nachlass zu regeln. Für mich ist damit ein Traum in Erfüllung gegangen, ich wollte schon immer in New York wohnen. Allerdings wäre es natürlich schöner, wenn meine Großmutter noch am Leben wäre.« Avery lächelte wehmütig.
»Hmm, ah ja.« James klang höflich gelangweilt und spielte mit dem Strohhalm in seinem Glas.
»New York ist wirklich eine irrsinnig tolle Stadt«, fügte sie hastig hinzu. Großartig, jetzt hörte sie sich auch noch an wie irgendeine dahergelaufene Touristin. Als Nächstes würde sie ihn fragen, ob er Lust hatte, mit ihr aufs Empire State Building zu fahren.
»Finden Sie, ja?«, sagte James
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