Nina, so gefällst Du mir
die Sonne hoch am Himmel. Es begann die eigentliche Steigung den Berghang hinauf zwischen Zwergbirken und Heidekraut und Weidengestrüpp.
Ab und zu blieb sie stehen und lauschte. Hier und da knisterte es ganz leise in der Heide. Vielleicht waren es nur Insekten; vielleicht war es eine Feldmaus oder eine Eidechse. Über sich hörte sie Vögel pfeifen und zwitschern. Vor ihrwühlte Zottel mit der Schnauze im Heidekraut. Sonst war kein Laut zu hören, kein Schritt, kein Zeichen dafür, daß Menschen unterwegs waren.
Wenn nun – wenn er nun plötzlich dort auf dem Fußsteig vor ihr auftauchen würde? Wenn sie ihm hier plötzlich gegenüberstünde?
Nina sah nach der Uhr. Du liebe Zeit – sie war seit zwei Stunden unterwegs. Zwei Stunden hatte sie für die wenigen Kilometer gebraucht, und trotzdem war sie noch nicht da! Noch immer lag ein ziemlich steiles Stück vor ihr.
Wie müde sie war!
Sie setzte sich auf einen Stein, nahm die Schultertasche ab und versuchte, sich zu entspannen. Ob sie etwas essen sollte? Nein, sie hatte gar keine Lust zum Essen.
Aber die hatte ein anderer. Zottel steckte die Schnauze in die Tasche, schnaufte und kratzte. Nina lächelte ein wenig, holte das Paket heraus und fütterte Zottel mit den guten Butterbroten. Sie selbst nahm sich einen Schluck Kaffee und ließ es dabei bewenden.
Vielleicht kam der Appetit, wenn sie ganz oben war, ganz oben in Blaufall. Sie hoffte, daß es dort vielleicht eine Terrasse gäbe, wo vorübergehende Gäste eine Tasse Tee oder Kaffee bekommen könnten. Hinein wagte sie sich nicht.
Aber eine Tasse und ein paar Butterbrote auf der Terrasse – o doch, das würde sie wohl wagen können.
Dann stand sie ganz plötzlich auf, hängte sich die Tasche wieder über, rief Zottel zu sich heran und weiter ging es den Berg hinauf…
Vor Nina lag das Hochgebirgshotel „Blaufall“, groß, schneeweiß und vornehm. Auf der einen Seite war der Tennisplatz, auf der anderen kam der Autoweg breit und eben von der Landstraße herauf. Und vor dem Hotel lag eine große, geräumige Terrasse mit bunten Sonnensegeln und kleinen Tischen und Stühlen in munteren Farben.
Es war hier ganz still und wie ausgestorben. Nina sah nach der Uhr. Die zeigte auf zwei. Da war man wohl eben mit dem Lunch fertig, und das ganze Hotel hielt Mittagsruhe.
Sie ging näher, leinte Zottel an und ging auf die Terrasse. Keine Menschenseele war zu sehen. Nun, setzen konnte sie sich ja immerhin. Irgendwann erschien wohl ein Kellner oder eine Kellnerin. Es hatte keine Eile, gar keine.
Zottel war offenbar müde. Er war ja auch mit seinem ewigen Hin-und-her-Gerenne viermal so weit gegangen wie sie. Er rollte sich neben ihrem Stuhl in sich zusammen und schlief ein.
Die Sonne brannte auf die Terrasse herab. Die Türen standen offen. Nina schaute ins Haus hinein. Sie sah in eine große Halle mit behaglichen Sesseln und kleinen Tischen, einer riesigen Musiktruhe und modernen Gemälden.
Jetzt kam ein junges Mädchen ums Haus herum gegangen. Nina folgte ihr mit den Augen. Die war aber smart! Schlank und braungebrannt und unwahrscheinlich elegant in einem supermodernen, kniefreien, zitronengelben Sommerkleid, blau abgesetzt. Die nackten Füße mit den schön rotlackierten Nägeln steckten in einem Paar Sandaletten. Und die große, lustige Korbtasche, die sie über der Schulter trug, sah nach Spanien oder Südfrankreich aus. Über der ganzen Erscheinung lag der Hauch einer großen und fernen, reichen Welt.
Sie ging ins Haus hinein, verschwand in der große Halle, und dann hörte Nina ihre Stimme. Diese Stimme rief etwas in einer Sprache, die Nina nicht verstand. Aber an dem Klang erkannte sie sie: Es mußte Französisch sein.
Und dann – plötzlich wurde Nina steif auf ihrem Stuhl. Eine Männerstimme antwortete, und diese Stimme hätte Nina erkannt, selbst wenn sie chinesisch gesprochen hätte.
Eine leise Stimme, die in derselben Sprache antwortete, fließend, ohne Stocken und ohne Pause.
Dann ein klingendes Frauenlachen. Wieder ein paar muntere Worte. Wieder die ruhige Männerstimme.
Nina fühlte, wie ihr das Herz weh tat.
Sie kramte aus der Tasche ihrer Sportjacke einen kleinen Spiegel und einen Kamm hervor. Sie hielt sich den Spiegel vors Gesicht – und mit einemmal sah sie sich selbst, so wie sie in den Augen fremder Menschen aussehen mußte: Spindeldürr war sie geworden, und blaß sah sie aus trotz der anstrengenden Wanderung – ja die Anstrengung schien sie noch blasser gemacht zu haben. Ihr Haar
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