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Nirgendwo in Afrika

Titel: Nirgendwo in Afrika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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bewußt geworden, daß er seine Gedanken und auch seine Angst so sehr viel lieber mit Kimani oder Owuor teilte als mit seiner Frau.
    In der ersten Zeit nach dem totgeborenen Kind war das anders gewesen. Jettel und er hatten voller Trauer und im Zorn auf das Schicksal zueinander und Trost in ihrer gemeinsamen Hilflosigkeit gefunden. Ein Jahr danach aber erkannte er eher ratlos als verbittert, daß ihre Einsamkeit und Sprachlosigkeit die Verbundenheit aufgebraucht hatten. Jeder Tag auf der Farm bohrte die Stacheln ein kleines Stück weiter in Wunden, die nicht verheilten.
    Wenn seine Gedanken um die Vergangenheit kreisten, wie es die sterbenden Ochsen im Fieberwahn um das letzte ihnen noch vertraute Stück Gras taten, kam sich Walter so töricht und gedemütigt vor, daß die Scham an seinen Nerven rüttelte. Genau wie Regina, dachte er sich sinnlose Spiele aus, um das Schicksal herauszufordern. Kamen morgens die kranken Arbeiter, Frauen und Kinder der Farm zum Haus, um nach Hilfe und Medikamenten zu fragen, so glaubte er fest, es würde ein guter Tag werden, wenn die fünfte in der Reihe eine Mutter mit einem Säugling auf dem Rücken war.
    Er empfand es als günstiges Omen, wenn der Sprecher in den Abendnachrichten mehr als drei deutsche Städte erwähnte, auf die Bomben gefallen waren. Mit der Zeit entwickelte Walter eine nicht endende Serie von abergläubischen Riten, die ihm entweder Mut machten oder seine Ängste schürten. Seine Fantasien erschienen ihm unwürdig, aber sie trieben ihn immer weiter zur Flucht vor der Wirklichkeit; er verachtete seinen immer stärker werdenden Hang zu Wunschdenken und machte sich Sorgen um seinen Geisteszustand. Stets aber entkam er nur kurze Zeit seinen selbst gestellten Fallen.
    Walter wußte, daß es Jettel ähnlich erging. Ihre Gedanken trieben sie noch genauso stark zu ihrer Mutter wie an dem Tag, als die letzte Post gekommen war. Er hatte sie einmal dabei erwischt, wie sie einer Pyrethrumpflanze die Blüten ausriß und dabei »Lebt, lebt nicht, lebt ...«, murmelte. In seinem Schock hatte er Jettel mit einer Grobheit, die ihn noch tagelang reute, die Pflanze aus der Hand gerissen, und sie hatte tatsächlich gesagt: »Nun werde ich es heute nicht mehr wissen.« Sie hatten auf dem Feld gestanden und gemeinsam geweint, und Walter war sich wie ein Kind vorgekommen, das nicht so sehr die Strafe, sondern die endgültige Gewißheit fürchtet, daß es von niemandem mehr geliebt wird.
    Kimani war schon lange hinter den Bäumen vor den Hütten verschwunden, aber Walter stand noch immer an derselben Stelle. Er lauschte dem Knacken der Äste und den Affen im Wald und wünschte sich, als sei sie von Bedeutung, einen kleinen Teil jener Freude, die Regina dabei empfunden hätte. Um den Moment der Rückkehr ins Haus wenigstens so lange hinauszuzögern, bis sich seine überreizten Sinne beruhigten, begann er die Geier auf den Bäumen zu zählen. Sie hatten in der Mittagshitze ihren Kopf ins Gefieder vergraben und sahen aus wie ein schwarzer Ball aus großen Federn.
    Eine gerade Zahl wollte Walter als Zeichen deuten, daß der Tag ihm nichts Schlimmeres mehr bringen würde außer der Unruhe, die ihn plagte. Eine ungerade Zahl unter dreißig bedeutete Besuch, der gemeinsame Abflug der ungeliebten Vögel eine Gehaltsaufbesserung.
    »Und wir wollen nicht vergessen«, rief er in die Bäume, »daß es hier noch nie einen Tag ohne euch verdammtes Pack gegeben hat.« Die Wut in seiner Stimme beruhigte ihn ein wenig. Er verlor aber die Übersicht und konnte die einzelnen Vögel nicht mehr ausmachen. Mit einem Mal erschien es ihm nur noch wichtig, das lateinische Wort für Vogeldeuter zu wissen. So sehr er sich aber mühte, er konnte sich nicht erinnern.
    »Das bißchen, was man mal gewußt hat«, sagte er zu Rummler, der ihm entgegenlief, »vergißt man hier auch noch. Sag selbst, du dummes Luder, wer soll uns schon besuchen?«
    Es wurden immer mehr Tage, die kein Ende nahmen. Walter vermißte Süßkind, den optimistischen Herold seiner ersten Emigrationszeit. Sie selbst erschien ihm bereits als Idylle. Im Rückblick und Vergleich kam ihm Rongai wie ein Paradies vor. Dort hatte Süßkind ihn und Jettel vor der Verlassenheit bewahrt, die sie in Ol' Joro Orok so niederdrückte, daß sie beide noch nicht einmal von ihr zu reden wagten.
    Die Behörden hatten das Benzin rationiert und verhielten sich immer abweisender mit den Genehmigungen, die die Enemy Aliens brauchten, um die Farm zu verlassen.

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