Noah: Thriller (German Edition)
Sterben. Seine dünnen, knochigen, mit Infusionsnadeln gespickten Arme waren über mehrere Schläuche mit einem Geräteturm verbunden. Herzfrequenz, Temperatur, Blutdruck und andere Vitalwerte liefen wie Börsenkurse über die Displays.
»Ich glaube, er wacht auf«, rief Celine, die sich zwischen Noah und Oscar gestellt hatte.
»Nein, er atmet nur schwer«, widersprach Oscar, korrigierte sich aber im nächsten Moment. »Halt, Sie haben recht. Da.«
Der Alte schlug die Augen auf.
»Großer Gott.« Celine hielt sich beim Anblick der rot unterlaufenen, wie blind wirkenden Pupillen die Hand vor den Mund.
Oscar klopfte gegen die Scheibe. »Hey, hallo. Können Sie uns hören?«
Der Mann hob den Kopf und glotzte in ihre Richtung. Noah hatte das Gefühl, von einer Horrormaske angestarrt zu werden, aus der sich jeden Augenblick die blutigen Augen lösen und zu Boden fallen würden.
Aber der Alte blinzelte nur. Und bewegte seine Lippen.
»Er redet«, erklärte Celine überflüssigerweise. Wegen der schallisolierenden Wirkung der Trennscheibe konnte Noah kein Wort verstehen. Er suchte nach einem Schalter und wurde neben der Eingangstür fündig. Nachdem er ein schwarzes Drehrädchen im Uhrzeigersinn bewegt hatte, knackte ein Lautsprecher über seinem Kopf und fing mitten im Satz mit der Übertragung an:
»… mir zurückgekommen? Warum?«
Er sprach nicht sehr laut, aber die Lautsprecher waren von guter Qualität, so dass der Mann problemlos zu verstehen war.
»Nein, wir sind nicht zurückgekommen«, versuchte Noah zu erklären. »Wir haben Sie gerade erst gefunden.«
»Wir?«
Der Alte richtete sich auf. Sein Nachthemd öffnete sich vor der Brust. Dicke, im Halogenlicht der Deckenstrahler feucht glänzende Blutergüsse überzogen seinen Oberkörper.
»Wer seid ihr?«, fragte er.
»Halt, tun Sie das besser nicht«, rief Noah dem Mann zu, als er sah, wie dieser sich die Infusionsschläuche aus dem Arm riss, um aufzustehen.
»Wieso nicht? Wozu sollen die denn jetzt noch gut sein?«
Barfuß schlurfte er auf sie zu, was ihn seine letzten Kräfte zu kosten schien. Er schwankte, knickte mehrfach ein und drohte zu stolpern. Als er die Scheibe erreicht hatte, konnte Noah nur noch ein schwaches Lebenszeichen in seinen Augen erkennen. Und das war Wut.
»Du?«, fragte der Alte ungläubig. Sein zahnloser Mund blieb offen stehen.
Noah trat einen Schritt zurück. Nicht aus Furcht oder Abscheu, sondern weil er in dem Gesicht des Mannes nach einem Anhaltspunkt suchte. Doch er erinnerte sich nicht, ihm jemals begegnet zu sein. Ganz im Gegensatz zu dem Sterbenden hinter der Scheibe.
»Ich … ich dachte, du bist tot! «, sagte der Alte. Er presste die Hand gegen die Trennscheibe. Aufgeplatzte Adern bildeten ein Hämatom auf seiner Handinnenfläche.
»Wieso lebst du noch?«, fragte er. »Konntest du mir nicht einmal diesen Trost lassen, bevor ich sterbe?« Er sah zu Oscar, dann zu Celine und schließlich wieder zu Noah.
»Dich tot zu wissen hätte mir meinen eigenen Tod versüßt, du …«
Er schluckte.
»… du dreckiger Verräter.«
Noah schüttelte den Kopf.
Ich bin nicht tot. Ich fühle mich nur so.
»Kennen wir uns?«, fragte er.
Eine Zornesfalte wuchs auf der Stirn des Alten.
»Ob wir uns kennen?« Der Patient ballte die Hand an der Scheibe zur Faust. »Was ist das jetzt? Ein letzter kranker Scherz, bevor ich sterbe?«
Eine Träne löste sich aus seinem rechten Auge. »Alles hast du verraten. Alles, wofür wir gekämpft haben.« Er zog die Nase hoch. »Du Feigling.«
Der Alte rotzte gegen die Glaswand. Grün gelblicher Schleim glitt die Scheibe abwärts. Trotz der Isolierung meinte Noah den säuerlich-fauligen Geruch der Spucke riechen zu können. Den abgestandenen Atem, mit dem der Alte seine Beschimpfungen ausspie.
»Ich hab deinen Brief gelesen.«
Welchen Brief?
»Du sagst, du kannst es aufhalten? Unsere jahrelange Arbeit? Das große Ziel? Pah!«
Wieder zog der Alte die Nase hoch, doch für eine Spuckattacke befand sich nicht genug Speichel in seinem Mund.
»Was für einen Brief?«, fragte Noah und sah dem Mann dabei zu, wie er sich umdrehte und ihnen einen Blick auf sein freiliegendes, kotverkrustetes Gesäß bot. Schwankend schlurfte er zu dem Beistelltisch des Krankenbetts zurück. Dabei hinterließ er eine Spur an dunklen Tropfen auf dem hellen Fußbodenbelag. Ob er Körperflüssigkeiten aus einer offenen Wunde am Oberschenkel verlor oder ob er einfach nur inkontinent war, hätte Noah nicht zu
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