Noch mehr Krimikatzen
Mutter war tot. »Und meinem Vater…« Er war ebenfalls tot, eine richtige Erlösung. »Und auch Gott möchte ich danken und meinem Englischlehrer in der neunten Klasse…«, der vermutlich auch längst tot war. Sie warf die Popcorntüte mit einer heftigen Bewegung beiseite und lief in die Küche, um sich eine neue Tüte zu holen. »Komm, mach schon, sonst verpaßt du vielleicht etwas.«
Die Tüte blähte sich auf. Katy packte die heiße Tüte und eilte in ihr Schlafzimmer zurück, wo ihr Fernsehgerät zwischen zwei großen Bauernschränken stand.
»Ist das nicht ein großartiges Leben, nicht wahr?« Katy stopfte das Popcorn in sich hinein und fragte sich, warum sie nicht die Hälfte der Filme gesehen hatte, die nominiert waren. Sie streckte sich auf ihrem Bett aus und tat so, als würde sie das Spektakel im Fernsehen genießen. Als Kind hatte sie sich sogar die Wahl zur Miss America angeschaut, und es hatte ihr gefallen. Nachdem sie allerdings zu einem sozial und kulturell bewanderten Teenager geworden war, hatte sie die Oscar-Verleihung und die Miss-Wahlen schrecklich gefunden. Und nun saß sie da und applaudierte dem besten Schauspieler. Müde richteten sich ihre Augen auf den Bildschirm. Natürlich gab es zwischen der Oscar-Verleihung und den Miss-Wahlen einen Unterschied. Aber alles war Schauspielerei, oder nicht? Das Telefon klingelte. Katy sprang auf. Sie liebte es, angerufen zu werden. Besonders jetzt, wo sie so fern von allem war.
»Hallo?«
Niemand am Apparat. Eine tote Verbindung? »Hallo, Erin?« Ihre Schwester Erin rief immer nach zehn Uhr am Abend an, um Telefongebühren zu sparen. Stille. Sie legte den Hörer auf die Gabel zurück und wandte sich wieder dem Fernseher zu. »Nun, das ist komisch«, sagte sie laut vor sich hin – sie hatte es sich angewöhnt, laut zu denken, wenn niemand in der Nähe war. Das gehörte in die Abteilung: Einsame Leute tun einsame Dinge. Sie könnte einen Artikel für eine dieser Glamour-Zeitschriften darüber schreiben. Aber was trägt Cher heute abend? O Gott! Katy klatschte in die Hände.
Sie trank den Rest ihrer Cola aus und versuchte sich zu konzentrieren, aber auf dem Bildschirm verschwamm alles. Katy sah ihre Vergangenheit. Das neue Haus und die Möbelpacker, die den Lkw entluden. Die Leere ihres Hauses wurde nach und nach mit der Hälfte ihres Lebens gefüllt, die eine Hälfte ohne Jack. Sie fragte sich unentwegt, wo der alte Ohrensessel war oder die Leselampe, die noch aus den dreißiger Jahren stammte. Und die schreckliche Skulptur, die Jack beim Pokern gewonnen hatte. Jack hatte nicht angerufen. Er hatte sich nicht einmal erkundigt, wie sie zurechtkam. Plötzlich hörte sie ein furchtbares Geräusch. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Decke mit den Motiven vom Stern von Bethlehem, die sie auf einer Handwerksmesse gekauft hatte, bevor sie Long Beach verließ. Die Katze. Katzenkämpfe. Kittykins verteidigte ihr Revier. Töte sie, Kittykins, bring sie um.
Filmmusik erklang, und dann erscholl Applaus. Katy sprang auf, sie hielt ihr Kinn so, wie Audrey Hepburn es immer getan hatte. Reglos lauschte sie, als plötzlich ein schwerer Gegenstand gegen ihr Haus schlug. Noch immer hielt Katy die Decke umklammert. Das Fauchen draußen verstummte, und eine seltsame Stille trat ein. Der Kampf der Katzen war vorüber. Wenn Kittykins tot war, dann würde auch Katy sterben.
Katy schaltete den Fernseher aus und begab sich in den Flur. Sie stand vor einer altmodischen Foto-Collage voller verblichener Farbfotos und besserer Schwarzweißaufnahmen, die ihre Mutter vor langer Zeit einmal zusammengestellt hatte. Das matte Licht verhinderte es, daß man die Gesichter auf den Fotos erkannte, aber Katy spürte sie trotzdem. Eine sanfte Ruhe lag auf den unsichtbaren Gesichtern. Katy spürte das Lächeln ihrer Mutter und die Augen ihrer Großmutter. Der alte Großvater spähte um die Ecke und erzählte wieder einen seiner Witze. Und ihre Schwester Erin hielt ihre Hände in der Pose einer Zwölfjährigen, die eine Turnerin nachahmte. Katy fühlte sich verloren, wie sie so dastand. Das Foto, das vor achtzehn Jahren aufgenommen war, nahm sie gefangen; die Züge auf dem verängstigten Gesicht des jungen Mädchens hatten sich in das Antlitz einer dreiunddreißigjährigen Frau verwandelt.
Geh und sieh nach der Katze. Katy lief den unbehaglichen Flur hinunter und betrat das Wohnzimmer. Eine Kiste, die noch nicht ausgepackt war, stand mitten im Zimmer. Die Kiste stand schon das ganze Jahr
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