Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
Glücklich und traurig blic k te sie ihnen nach. Federn, Mähnen und Haare flatterten in den Strahlen einer goldenen Herbstsonne. Eine wilde, furchtlose Meute jagte hinaus in die Prärie und ließ sie bekümmert zurück. Wie gern wäre sie mit ihnen geritten.
Das Kreischen einer Spottdrossel riss Naduah aus ihren Tagträumen. Mürrisch warf sie einen Kiesel nach dem vorbeifliegenden Vogel, der vor Schreck seine Notdurft verrichtete. Ein Klecks weißen Breis fiel in das Wasser, wurde fortgespült und löste sich auf.
Sie verließ das Becken, kletterte an den steilen Felsen hinauf und suc h te nach ihrem Kleid. Ein paar Mal war es geschehen, dass Jungen es ihr gestohlen hatten, doch diesmal lag es genau dort, wo sie es fallengelassen hatte. Warm brannte die Sonne auf ihren Rücken, während sie ihren Zopf auswrang. Hier und jetzt fühlte sie sich schön, begehrenswert und erwachsen. Kein Nunumu hielt Bescheidenheit für eine T u gend. Hatte man einen Grund, stolz auf sich zu sein, war man das auch und tat es unbekümmert kund. Fünf Tugenden gab es unter den Me n schen. Stärke, Tapferkeit, Großmut, Weisheit und Schönheit. Jedes Kind kam mit e i nem dieser Vorzüge auf die Welt. Manche auch mit zweien und sehr wenige mit dreien.
Naduah wusste, dass man sie für schön hielt. Ihr zu bernsteinfarbenem Gold ausgebleichtes Haar war unter den Nunumu so außergewöhnlich wie ihre türkisblauen Augen, was die Blicke vieler Männer auf sich zog. Ob sie großmütig war, wusste Naduah nicht mit Sicherheit zu sagen, hoffte es aber. Ging sie mit ihren Freundinnen auf die Jagd nach Antil o penhasen und Präriehühnern, schreckte sie vor keiner Herausforderung zurück, durchschwamm reißende Flüsse, sprang vom höchsten Felsen ins Wasser und schlich sich an schlafende Bären heran. Bedeutete das Stärke und Tapferkeit? Bestimmt.
Ihre Gedanken kreisten erneut um Noco na, was die Glut in ihren Ei n ge weiden von Neuem entfachte. Bald würde man die erfolgreiche Jagd mit einem rauschenden Fest krönen. Unverheiratete Männer putzten sich heraus und umwarben die ledigen Frauen nach allen Regeln der Kunst. Jede Seite versuchte der jeweils anderen zu gefallen, weshalb sich Naduah schwor, ihr schönstes Kleid aus weißem Rehleder zu tragen. Sie würde Siyo, ihre gefleckte Stute, besonders lange striegeln und auf ihrem Rücken beweisen, wie viel sie gelernt hatte. Nocona würde sie nicht als ungeschicktes, schreckhaftes Mädchen sehen wie heute Morgen am Fluss. S ie würde ihm eine schöne, stolze Frau zeigen. Eine Frau, für die jeder Mann viele Pferde gab.
Als sie ihre Hand betrachtete, glaubte sie, noch immer den warmen Druck seiner Finger zu spüren. Kein größeres Geschenk hätte er ihr geben können als diese Berührung, und doch fühlte sie sich im Innersten elend. Der Gedanke, im Dorf zu hocken, während draußen in der Prärie die Große Jagd stattfand, quälte sie zutiefst.
Nicht einmal die neidvollen Blicke, die man ihr zuwarf, vertrieben di e sen Schatten über ihrer Seele. Ihre Schritte waren schwer vor Sorge. Es war gut möglich, dass Nocona etwas zustieß. Im letzten Jahr waren viele Männer ums Leben gekommen. Auf Tragen hatte man ihre zerschund e nen Körper ins Dorf geschleppt und der Gedanke, vielleicht nur seine Leiche wiederzusehen, war unerträglich.
Mahtos Stimmung schien kaum besser zu sein. Trübsinnig hockte er vor dem Tipi, schnitzte an einer Knochenflöte herum und suchte Trost in seinem Leibgericht: Walnuss-Pemmikan mit getrockneten Pflaumen.
Sie setzte sich neben ihren Vater auf das Fell und beobachtete ihn. Mit einem nadelspitzen Stein ritzte Mahto filigrane Muster in die Flöte, ebe n so geschickt, wie er damals die Tiere in den Flussschlamm gezeichnet hatte. Sie liebte es, ihm beim Arbeiten zuzusehen. Seine großen, rissigen Hände gingen mit allem behutsam um.
„Wie geht es dir? Was macht dein Bein?“
„Wie soll es mir gehen?“ Er zog eine mürrische Grimasse. „Sie sind ohne mich jagen gegangen.“
„Bald bist du wieder gesund. Ich weiß es.“
Sie strich ihm über die Schulter. Die grauen Strähnen in seinem offen h in abfallenden Haar erinnerten an die verrinnende Zeit und an ihre U n fähigkeit, den Lauf der Dinge aufhalten zu können. Vielleicht würde Mahto niemals wieder laufen können, ohne zu hinken. Wäre er doch niemals auf diese Antilopenjagd gegangen. Das Präri e hundloch hatte das Bein seines Pferdes wie einen dürren Zweig zerbr e chen lassen. Ihr Vater war
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