Nördlich des Weltuntergangs
ihm gelang, einen Platz auf einem Schleppkahn zu ergattern, der über den Finnischen Meerbusen nach Estland fuhr. Er beobachtete das Weltkriegsgeschehen einige Wochen von Tartu aus und wartete auf eine Gelegenheit, nach St. Petersburg zu reisen. Zu seinem Unglück erkrankte er an Tripper und musste zwischendurch nach Finnland zurück, um sich behandeln zu lassen. Gegen Ende des Herbstes überquerte Severi die Staatsgrenze heimlich mit dem Boot und schlug sich zur Bahnstrecke durch, die nach Norden, nach Vyborg, führte. Doch es gab keinen Zugverkehr, die Schienen waren mit Gras überwuchert. In den Wäldern hielten sich Räuber versteckt. So war größte Vorsicht geboten, als Severi längs der Bahnstrecke nach Vyborg trabte. Die Stadt war teilweise abgebrannt und völlig verwaist. Severi musste an den Schienen zu Fuß bis nach St. Petersburg weitergehen.
Anfang November kam er in St. Petersburg an. Die Vororte waren verlassen, und je weiter sich Severi dem Zentrum näherte, desto trauriger wirkte die frühere Millionenstadt. Nur wenige Menschen irrten in den Straßen umher. Auch ein paar Soldaten kamen ihm entgegen, aber im Grunde genommen war die Stadt leer.
Severi erkundigte sich bei Passanten, die er traf, wo die Einwohner geblieben seien. Man erklärte ihm, dass die Stadt evakuiert worden sei, da Seuchen drohten. Das große Staubecken in der innersten Bucht des Finnischen Meerbusens hatte sich mit stinkendem Schlamm gefüllt, denn die Kanalisation der Stadt war schon seit Jahren verstopft gewesen, und der Müll hatte alles unter sich begraben. Es war ähnlich wie in New York gewesen, nur dass man hier von vornherein die Hoffnung aufgegeben hatte, die Stadt zu retten. Das neue St. Petersburg wurde dem Vernehmen nach am anderen Ufer des Ladoga, in Tihvin, gebaut. Dort wohnten inzwischen angeblich bereits zwei Millionen Menschen. Tihvin war, wie man Severi erzählte, die größte ganz und gar aus Holzbalken gebaute Stadt der Welt. Da St. Petersburg untergegangen war, und es auch um Moskau nicht besser stand, sollte Tihvin die neue Hauptstadt Russlands werden, wenn es denn erst einmal fertig wäre. Unter Kriegsbedingungen dauerten Bauarbeiten lange. Aus den Palästen von St. Petersburg waren Mauersteine nach Tihvin geschafft und für den Bau von Hafenkais verwendet worden. Fast alle Newa-Brücken waren eingestürzt, weil ihre Steinkästen vom Ufer abtransportiert worden waren. Die Newa war verstopft wie die ganze Stadt, und so hatte sich der Strom ein neues Bett über Peterhof in den Finnischen Meerbusen gebahnt. Die neue Newa hatte viele alte Palastviertel mit sich gerissen, der größte Teil des ehemaligen prachtvollen Zentrums war jedoch noch vorhanden.
Durch die Straßen der Stadt strichen Füchse und Marderhunde, und nachts war manchmal das Heulen von Wölfen zu hören. Severi sicherte sich seinen Lebensunterhalt, indem er mit den Füchsen um die Wette Jagd auf die Hasen machte, die die Gegend um den Finnischen Bahnhof bevölkerten und sich in den verwilderten Parks der Großstadt anscheinend wohl fühlten.
Die Straßen und Kanäle waren bis zu einem Meter hoch mit Schlamm bedeckt, den die Newa mitgebracht hatte und der jetzt gefroren war. Severi schlitterte durch die vereisten Straßen und betrachtete traurig die verfallenen Paläste. Er hatte im vergangenen Jahrhundert mehrmals das damalige Leningrad besucht und dachte wehmütig an die hellen Nächte in der großen Stadt, als die Taxis herumgeflitzt waren, der Wodka in Strömen geflossen war und die unbekümmerten Russen ihre ausufernde Gastfreundschaft gezeigt hatten.
Severi entdeckte viele bekannte Orte, leer stehende Restaurants und verwaiste Museen, deren Sammlungen verschwunden oder fortgebracht worden waren. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen, die Türen aus den Angeln gefallen. Vom ehemaligen Museum der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution war nicht mehr viel übrig: Im Hauptsaal war die Decke eingestürzt, im Schlamm schwamm ein einsamer Bus, in dem noch das russischsprachige Hinweisschild zu erkennen war, das Rauchen und Wodkatrinken verbot. Die Sammlungen der Eremitage waren zum Glück ausgelagert worden, denn auch dieser große Komplex steckte im vereisten Schlamm.
Severi rutschte über den alten Newski Prospekt, vom Museum für Bildhauerkunst bis hin zur ehemals so prachtvollen Isaak-Kathedrale. Die Kirche stand fest auf ihrem Platz, Krieg und Schlamm hatten ihr kaum etwas anhaben können. Die goldenen Kuppeln waren freilich grau
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