Nora Roberts
dunklen westlichen Himmel hinauf. Sie hatte keine Termine, keine Verabredungen, keine Präsentationen, die es vorzubereiten galt. Hier hatte ihr Leben nicht die vertraute und deshalb tröstliche Struktur.
Was tat ein Mensch auf dem irischen Land im Morgengrauen? Nachdem sie aus dem Bett gekrabbelt war, ging sie zum Kamin und stocherte im Feuer herum, ehe sie sich mit angezogenen Beinen auf die Bank unter dem Fenster kauerte.
Sie erkannte die Felder, die Schatten der Steinmauern, die Umrisse eines Hauses und mehrere Wirtschaftsgebäude, als die Farbe des Himmels langsam von Indigo in eine weicheres Blau überging. Einigermaßen amüsiert vernahm sie das Krähen eines Hahns.
Vielleicht sollte sie Brianna beim Wort nehmen, sich ihren Wagen ausleihen und irgendwo hinfahren. Irgendwohin. Dieser Teil Irlands war für seine reizvolle Landschaft berühmt. Shannon dachte, am besten sähe sie sich die Umgebung mit eigenen Augen an, denn schließlich war sie nun einmal hier. Vielleicht nutzte sie sogar den Ort und die Ferien, um zu malen, wenn ihr danach zumute war.
Im Badezimmer zog sie den Vorhang um die klauenfüßige Wanne und stellte zufrieden fest, daß das Wasser in einem heißen, dicken Strahl aus der Dusche geschossen kam. Anschließend zog sie einen dunklen Rolli und eine Jeans an, und beinahe hätte sie ihre Handtasche genommen, ehe ihr klarwurde, daß diese, solange sie keinen Wagen hatte, wohl kaum erforderlich war.
Sie beschloß, Briannas Aufforderung, sich wie zu Hause zu fühlen, anzunehmen und in die Küche zu gehen, denn ein Kaffee wäre bestimmt nicht schlecht.
Im Haus war es so ruhig, daß sie allein zu sein meinte. Sie wußte, in der oberen Etage waren Gäste, aber Shannon hörte nichts außer dem leisen Knarren der Stufen, auf die sie trat.
Als sie durch das nach Osten gehende Fenster das Farbenspiel der aufgehenden Sonne sah, blieb sie reglos stehen. Über den Horizont schoben sich dicke, übereinandergeschichtete, von roten Wirbeln durchzogene Wolken. Die kräftige Farbe breitete sich am Himmel aus und fraß die weicheren Blau- und Rosatöne mit gierig züngelnden Flammen auf. Noch während Shannon aus dem Fenster blickte, segelten die Wolken wie ein brennendes Schiff über den Himmel, der langsam an Helligkeit gewann.
Zum ersten Mal seit Monaten wurde das Bedürfnis zu malen in ihr wach. Mehr aus Gewohnheit als aus dem Wunsch, sie tatsächlich zu benutzen, hatte sie einen Teil ihrer Zeichenutensilien eingepackt. Nun war sie dankbar und überlegte, wie weit sie wohl fahren müßte, bis sie einen Laden fand, in dem sie die fehlenden Requisiten bekam.
Froh, daß nunmehr die Aussicht auf eine echte Beschäftigung für sie bestand, ging sie weiter, bis sie in die Küche kam.
Als sie Brianna sah, die bereits einen Brotteig knetete, war sie ehrlich überrascht. »Ich dachte, ich wäre die erste, die auf den Beinen ist.«
»Guten Morgen. Du scheinst eine Frühaufsteherin zu sein.« Lächelnd fuhr Brianna mit dem Kneten fort. »Genau wie Kayla, und sie wacht immer furchtbar hungrig auf. Es gibt Kaffee oder Tee, falls du willst. Grayson hat sich seine Tasse bereits abgeholt.«
»Er ist also auch schon wach?« Soviel, dachte Shannon, zu einem ruhigen Tagesbeginn.
»Oh, er sitzt bereits seit Stunden über seinem Buch. Er fängt manchmal sehr früh an, wenn er an einer Stelle nicht weiterkommt. Ich mache dir Frühstück, sobald ich mit dem Teig hier fertig bin.«
»Danke, außer Kaffee möchte ich nichts.« Nachdem sie sich eine Tasse eingeschenkt hatte, stand Shannon ein wenig verlegen und ratlos herum. »Du backst also dein eigenes Brot?«
»Ja, ich finde, es ist eine beruhigende Tätigkeit. Iß wenigstens eine Scheibe Toast. Im Brotkasten liegt noch ein Laib von gestern.«
»Später vielleicht. Ich dachte, ich fahre ein bißchen herum und sehe mir die Klippen an oder so.«
»Oh, sicher, mach dich nur mit der Umgebung vertraut.« Brianna formte den Teig zu einer Kugel und legte ihn in eine große Schüssel. »Die Autoschlüssel hängen an dem Haken da. Nimm sie dir einfach immer, wenn du sie brauchst. Hast du gut geschlafen?«
»Tja, ich ...« Beinahe hätte Shannon Brianna von ihren Träumen erzählt. »Ja, das Zimmer ist wirklich sehr gemütlich.« Von der alten Rastlosigkeit ergriffen, trank sie einen Schluck von ihrem Kaffee. »Gibt es hier in der Umgebung irgendwo ein Fitneß-Studio?«
Brianna bedeckte den Teig mit einem Tuch und trat an die Spüle, um sich die Hände zu waschen. »Ein
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